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Kameraleute belagern das Chaoyang Krankenhaus, in dem sich Chen derzeit aufhält.

Foto: Reuters/Lee

Sechs Tage nach seiner dramatischen Flucht aus dem Hausarrest hat der blinde chinesische Dissident Chen Guangcheng die US-Botschaft in Peking wieder verlassen. Die Entscheidung des Anwalts sei nach Drohungen gegen dessen Familie gefallen, erklärte ein Unterstützer Chens am Mittwoch. Er widersprach damit sowohl den USA als auch China, die von einem freiwilligen Schritt gesprochen hatten.

Familie angeblich bedroht

Von chinesischer und us-amerikanischer Seite heißt es, Chen habe die Botschaft "gemäß seinem Wunsch und unserer Werte" verlassen. Dagegen erklärte der Präsident der texanischen Menschenrechtsgruppe ChinaAid, Bob Fu, die chinesische Führung habe Chens Familie "ernsthaft bedroht", sollte der Anwalt das "Angebot" ablehnen. Zeng Jinyan, die Frau des mit Chen befreundeten Bürgerrechtlers Hu Jia, sprach sogar von konkreten Drohungen gegen Chens Frau Yuan Weijing.

In einer ersten Reaktion zeigten sich die USA überrascht: Zu keinem Zeitpunkt habe ein US-Vertreter mit Chen über Drohungen gegen seine Frau oder Kinder gesprochen, erklärte das Außenministerium in Washington. Der US-Spitzendiplomat Kurt Campbell, der selbst in der Botschaft zugegen war, sagte, Chen sei aus freien Stücken gegangen - "er hat uns umarmt und allen gedankt".

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Der durch seine dramatische Flucht vom Shandonger Bauerndorf nach Peking weltbekannt gewordene, blinde Bauernanwalt Chen Guangcheng hat die US-Botschaft, in die er durch die Hintertür hineinkam, durch das Hauptportal wieder verlassen. Am Mittwoch wurde der 40-Jährige, begleitet von US-Botschafter Gary Locke, in das Chaoyang-Hospital gefahren und dabei telefonisch von US-Außenministerin Hillary Clinton beglückwünscht, wie der Korrespondent der Washington Post von Locke selbst erfuhr.

Weiterstudieren

In der Klinik, wo Chen seinen beim Sprung von der Mauer seines Hauses verletzten Fuß behandeln lässt, warteten seine Frau und seine beiden Kinder auf ihn. Peking hatte Chen die ärztliche Behandlung erlaubt und den USA zugesichert, dass er mit seiner Familie in China bleiben und an einem "sicheren Ort" weiterstudieren dürfe. Freunden hatte Chen zuvor in Peking gesagt, er wolle nicht ins Asyl in die Vereinigten Staaten, sondern in China bleiben und sich weiter ausbilden. Er habe nichts verbrochen und sei den Menschen verpflichtet, denen er bisher geholfen habe.

Regierungssprecher Liu Weimin sagte der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua, dass Chen nach sechs Tagen die US-Botschaft aus freien Stücken verlassen habe. Liu verlangte eine Entschuldigung von den USA. Sie hätten einen chinesischen Bürger "mit unnormalen Mitteln" in ihre Botschaft hineingebracht und sich so "in innere Angelegenheiten Chinas eingemischt". Sie müssten "alle Personen, die damit zu tun haben, zur Rechenschaft ziehen und sicherstellen, dass so etwas nicht wieder passiert".

Apparat versagte

Nach außen versucht Peking vom Versagen seines allmächtigen Sicherheitsapparates abzulenken, der nicht einmal einen Blinden stoppen konnte. Die mühsam ausgehandelte, aber schließlich pragmatische Lösung kam kurz vor Beginn der neuen Runde strategischer Gipfelgespräche in Peking zustande, die Staatschef Hu Jintao heute, Donnerstag, eröffnet. Außenministerin Clinton und Finanzminister Timothy Geithner leiten für die USA den hochrangigen Dialog. Auf der Tagesordnung stehen Nordkoreas befürchteter Atomtest, die Lage in Syrien und Iran. Streitpunkte sind beabsichtigte US-Waffenlieferungen an Taiwan wie auch Chinas auftrumpfende Rolle bei Territorialstreitigkeiten im Südchinesischen Meer. Wirtschaftlich suchen beide Staaten nach Wegen zur Belebung der Weltmärkte.

Chens Flucht in die Botschaft drohte die lange vorbereitete Tagung zu überschatten. Unter höchster Geheimhaltung suchten seit Sonntag Emissäre Washingtons mit Pekinger Gesprächspartnern nach einer für alle gesichtswahrenden Lösung für den seit Kindheit blinden Sozialaktivisten. Das Tauziehen um ihn ist nun beendet. Für Peking aber wäre es zu riskant, mehr zu tun und eine öffentliche Debatte darüber zu tolerieren, wie in China vor Ort mit Bürgerrechtlern umgegangen wird und warum die Zentralregierung diese Praxis jahrelang gedeckt hat.

Chen hat in einem Videofilm einen dramatischen Appell an Premier Wen Jiabao gerichtet, sein Leid und Unrecht aufzuklären und seine Familie vor der Rache lokaler Behörden zu schützen. Nur das Letztere war Peking bereit, für ihn zu tun. Immerhin. (APA/Johnny Erling, DER STANDARD Printausgabe, 3.5.2012)