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Ein Mann sitzt im bestreikten Hafen von Piräus und wartet.

Foto:Petros Giannakouris/AP/dapd

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Tag der Arbeit in Athen.

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Grafik: derStandard.at

Athen - Über den Straßen Athens hängt ein Hauch von Anarchie. Im hektischen Verkehr der griechischen Hauptstadt kommen Autos und Mopeds gern auch erst am Zebrastreifen zum stehen, und in den kleinen Gassen der Altstadt wird ein Abrissgelände schnell zur Müllhalde, die ausgeschlachtete Kühlschränken, alte Kinderwägen und Sperrholz gleichermaßen in sich aufnimmt. Das lebensfrohe Chaos setzt sich bis zu den bunt dekorierten Balkonen und Dachterrassen hinauf fort, wo die Griechen ihre Wäsche aufhängen und Topfpflanzen in den Himmel wachsen lassen und ihre Abendstunden verbringen.

Griechenland hält den Atem an

Vor den Parlamentswahlen am 6. Mai hält Griechenland den Atem an. Noch ist die Krise bei vielen Menschen nicht voll angekommen, man verharrt in einem Schwebezustand und hofft auf einen Ausweg. Doch nach der Wahl wird es grimmig: Scheitert die Große Koalition aus Sozialisten und Konservativen an ihrer Wiederwahl, droht ein Staatsbankrott mit unvorhersehbaren Konsequenzen für die Bevölkerung. Erreicht sie wieder eine Mehrheit, steht eine neue Runde an drastischen Sparmaßnahmen an.

Die Jugend Athens ist vorerst noch in Feierlaune, trotz der Krise: Die Straßen des Vergnügungsviertels Plaka und der angrenzenden Innenstadtviertel sind wohl gefüllt, und am Freitagabend lässt sich kaum irgendwo auch nur ein freier Barhocker ergattern. An so manchen Orten wird Whisky um zehn Euro das Glas ausgeschenkt, und die Athener greifen gerne zu. "Für ein Jahr reicht das Ersparte noch", sagt Paris, und nimmt noch einen Schluck. Der Grafiker lebt seit 40 Jahren in der Stadt, sagt er, mit kleinen Unterbrechungen für Studienaufenthalte in London und Mailand. Vor ein paar Jahren gründete er ein Designstudio, das Übersetzungen aus anderen europäischen Ländern illustrierte, avantgardistischen Lesestoff für ein interessiertes Publikum. Vor zwei Jahren kam dann das Aus: Paris musste die Firma schließen, seither lebt er von einzelnen Aufträgen. Er hat noch Arbeit, sagt er, aber im Moment zahle niemand mehr die Rechnungen für die erbrachten Leistungen.

"Der Staat ist arm, die Leute sind reich"

Das Land muss nun Buße tun, heißt es von Kommentatoren, für einen Lebensstil, der nicht finanzierbar war. Die Athener hingegen sagen, es sei sehr wohl genug Geld in Griechenland vorhanden, aber: "Der Staat ist arm, die Leute sind reich", formuliert Paris, der wie rund zwei Drittel aller erwerbstätigen Griechen selbstständig ist. Er sei aus einer ehrlichen Familie und habe immer Steuern bezahlt, betont er, nur um ein paar Augenblicke später zu relativieren: Eine Firma zu besitzen und auf alles Steuern zu bezahlen, sei unmöglich in Griechenland. Sein Steuerberater sei es gewesen, der ihn vor Jahren dazu überredet habe, ebenfalls zu betrügen, obwohl er damit nicht glücklich sei. Lieber wäre ihm, sagt Paris, er finanziere einen ordentlichen Sozialstaat, als eine Clique von korrupten Seilschaften, die in der Politik und der Verwaltung das Sagen hätten.

Den Preis für die falsche Politik der vergangenen Jahrzehnte zahlen bisher vor allem die sozial schwachen Griechen: In der Straße vor der Nationalbank bettelt eine junge Frau mit einem kleinen Kind am Schoß um Geld, und ein wenig weiter schläft eine drahtige, weißhaarige Griechin vor Erschöpfung im Schatten eines Hauseingangs. In Vororten sieht man Einwanderer, die in den Mülltonnen nach Kleidung wühlen, und Trinker, die nach einem heißen Nachmittag einfach umkippen und am Boden liegenbleiben. Die Stadt geht hart mit den Armen ins Gericht - schon allein, weil der griechische Sozialstaat nicht stark genug ist, um sie aufzufangen. Nicht erst seit der Wirtschaftskrise ist man in Griechenland in Notsituationen auf Familie und Freunde angewiesen, um einen vor dem Absturz in die Armut zu bewahren.

Verzicht auf Bücher

Doch die Budgetkürzungen gehen auch der Mittelschicht an die Substanz. Man habe ihm 27 Prozent seines Gehaltes gekürzt, klagt ein Universitätsprofessor aus Athen. Seine Familie gehe nun immer seltener zum Essen aus, und neue Anschaffungen müssten vorerst warten. Besonders schwer falle es ihm, auf Bücher zu verzichten, sagt der Professor. Immer öfter liebäugle er mit dem Ausland. Wie ihm geht es vielen, die ihr Gehalt vom Staat beziehen.

Der Unmut über die Lage äußert sich mittlerweile auch am Rande der Macht, in einem Restaurant am Fuße der Akropolis, bei einer Wahlveranstaltung der Konservativen. An dem lauen Frühlingsabend sitzen die Honoratioren der Partei bei einem Glas Wein zusammen, Männer im Anzug, Damen im Abendkleid, die gekommen sind, um der Abgeordneten aus ihrem Wahlkreis zu lauschen. Man ist hier, um sich auf einen Wahlsieg zu freuen, der wieder einen Konservativen an die Regierungsspitze bringen könnte.

Doch auch die jungen Unterstützer der Partei sind skeptisch über den Kurs des Landes. Jeder in Griechenland versuche, für sich selbst eine Sondervergünstigung zu schaffen, sagt die rund 30-jährige Dimitra - keiner wolle der einzige sein, der Steuern zahle. Die junge Frau ist in Deutschland aufgewachsen, und kam vor ein paar Jahren in das Land ihrer Eltern zurück, um einen Griechen zu heiraten. Überall, so sagt sie, herrschten Freunderlwirtschaft und Korruption - kaum ein Parlamentarier, dessen Vater oder Onkel nicht schon im Parlament gesessen sei. Gemeinsam mit Freunden, die ebenfalls den Konservativen nahestehen, würde sie oft davon sprechen, dass es eine Umwälzung im System des Landes geben müsse, sagt sie. Dennoch sei es bei der kommenden Wahl notwendig, ein weiteres Mal für die "Altparteien" zu stimmen. Andernfalls, sollten linke Parteien und EU-kritische Parteien die Macht übernehmen, und aus der Eurozone austreten, breche das Land zusammen.

Gegner in den Startlöchern

Die Gegner der etablierten Ordnung scharren schon in den Startlöchern. Ihre Hochburg haben sie unter anderem an der Polytechnischen Universität im alternativen Athener Stadtteil Exarchia, wo seit Jahrzehnten immer wieder Proteste und Unruhen ihren Ausgang nahmen. Zwischen Architekturstudenten, die in der Säulenhalle der Universität an ihren Modellen basteln, haben zahlreiche linksradikale Gruppen ihre Wahlstände aufgebaut. Die Jugendlichen nehmen große Worte in den Mund, "Arbeiterklasse", "Kommunismus" und "Revolution". Ein junger Mann, der sich als John vorstellt, sagt, das griechische Beispiel werde in Europa den Weg vorgeben. Wenn erst der Leidensdruck durch die Einsparungen hoch genug sei, dann werde das Volk sich erheben, und es werde einen radikalen Wandel geben.

Wie viele seiner Landsleute hält John die Krise Griechenlands für eine Verschwörung aus dem Ausland. Solche Ansichten sind nicht nur von linken Studenten und Gewerkschaftsführern zu hören, sondern auch von gewöhnlichen Athenern. Die steigenden Kreditschulden, die immer schlimmere Rezession und Arbeitslosigkeit, die von EU vorgeschriebenen Budgetkürzungen - das alles sei eine gezielte Attacke, um die griechische Bevölkerung unter immer schlechteren Arbeitsbedingungen und für immer niedrigere Löhne arbeiten zu lassen. Verantwortlich ist, je nachdem, wen man fragt, die Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, "das Finanzkapital", oder auch "die Ausländer" und insbesondere Deutschland.

Unter vielen Griechen herrscht vor der entscheidenden Wahl ein Gefühl der Ohnmacht vor. Man hält sich für zwischen Skylla und Charybdis gefangen, den zwei Meeresungeheuern der griechischen Sage, die beide gleichermaßen Unheil für das schwankende Schiff versprechen. Auf der einen Seite liegt das Fährnis eines harten Sanierungskurses, der soziale Entbehrungen für Griechen bedeutet, und das Land auf viele Jahre dem Wohlwollen der anderen EU-Staaten ausliefert. Weisen die Griechen diesen Kurs zurück, bleibt nur das Wagnis eines Alleingangs, jenseits von EU und NATO, der jegliche Sicherheit innerhalb der beiden Staatengemeinschaften hinter sich zurücklässt.

Bis es so weit ist, genießt man in Athen den Frühsommer. "Ich liebe den Sommer, ich liebe die Frauen", sagt Paris, dessen Namensvetter in der Ilias von Homer die schöne Helena aus Sparta raubte. Was er in einem Jahr machen wird, kann er nicht sagen. Ihm werde schon etwas einfallen, erklärt er. Bis dahin sei ja noch Zeit. (Alexander Fanta/APA, derStandard.at, 1.5.2012)