Marthas Entdeckung einer befremdlichen Heimatwelt: "Corpo celeste" eröffnete den Hauptbewerb des Crossing-Europe-Filmfestivals.

Foto: Crossing Europe

Linz - Am Beginn tappt man buchstäblich im Dunkeln: Schwaches Licht aus Taschenlampen fällt hie und da auf unwirtliches Gelände. Kleine Grüppchen sammeln sich im Morgengrauen, alte Frauen singen eine Litanei. Als es hell wird, kommen dann die Honoratioren, und der Pfarrer wendet sich über eine notdürftig geflickte Tonanlage an seine ergebene Gemeinde.

In das Geschehen gerät man genauso unvermittelt wie die 13-jährige Martha (Yle Vianello). Die Kamera begleitet ihre neugierige, hastige Bewegung ins neue Leben aus nächster Nähe: Martha ist mit Mutter und Schwester nach zehn Jahren in der Schweiz erst vor kurzem wieder nach Süditalien zurückgekehrt. Dass die katholische Kirche hier noch ein wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Lebens ist, und wie weit deren Einfluss auf die Einzelnen reicht, das ist eine der irritierenden Erfahrungen, die die unerschrockene Martha im Verlauf dieser stimmigen, in grobkörnige Bilder gefassten Coming-of-Age-Geschichte machen wird.

Corpo celeste, das Spielfilmdebüt der Italienerin Alice Rohrwacher, eröffnete den Hauptwettbewerb des Crossing-Europe-Filmfestivals, das heuer in mehreren Festivalsektionen mit Kollisionen zwischen Welten und Weltanschauungen konfrontiert.

Die formal anspruchsvollen Arbeiten belegen, wie viele filmische Möglichkeiten des Erzählens es abseits eines sanktionierten, ästhetisch bedeutungslosen Arthouse-Mainstreams immer noch gibt: Der Portugiese João Canijo zum Beispiel fasst Sangue do Meu sangue / Blood of my blood in räumlich verdichtete, lange Sequenzen. Simultan bespielt werden aneinandergrenzende Zimmer ebenso wie Hinter- und Vordergrund einer Szene - oder klug eingerichtete Spiegelbilder.

Die Kamera bleibt in gleitender Bewegung, deshalb wirkt es nie bemüht. Der Ton ist durchlässig für Geräusche und den Dauerstreit der Nachbarn. Die Figuren, eine von Frauen dominierte Familie, die sich ein kleines Häuschen in einem Sozialwohnbauprojekt teilt, verfolgen alle ein Ziel im Leben. Die ältere Generation wacht über die jüngere. Aber Mutter und Tante können in diesem an die Marseille-Filme von Robert Guédi guian erinnernden Arbeitermelodram trotzdem nicht verhindern, dass sich Tochter und Neffe auf fatale (Geschäfts-)Beziehungen einlassen.

Elena, die Titelheldin aus Andrei Zvyagintsevs zweitem Spielfilm, hat ihren Lebenstraum dagegen bereits verwirklicht, so man darunter den sozialen Aufstieg versteht. Die ersten Einstellungen dieses eleganten Films begleiten sie bei ihren morgendlichen Routinen in einer Designerwohnung in einem vornehmen Moskauer Bezirk. Dort lebt sie mit ihrem Mann, der gemeinsame Alltag wirkt eingespielt, das Defizit dieser späten Ehe liegt woanders. Elena hat einen Sohn aus einer anderen Ehe, der mit seiner Familie am anderen Ende der Einkommensskala in einem muffigen Loch nahe einem Atomkraftwerk lebt.

Dass die beiden Milieus unvereinbar sind, daran lässt Zvyagintsews leicht süffisanter Blick auf die Menschen keinen Zweifel. Da Elenas Enkel allerdings eine Universität besuchen soll und hiefür Geld fehlt, geraten sie miteinander in Konflikt. Der subkutane Thriller erinnert an die unversöhnlichen Dramen Claude Chabrols:

Zvyagintsev legt offen, dass es zwischen den Klassen im gegenwärtigen Russland höchstens Dialog, aber bestimmt keine gemeinsame Sprache gibt. In einer großartigen Szene offenbart sich die Liebe zwischen Elenas Mann und seiner verwöhnten Tochter etwa in einem zynischen Wortgefecht - die rechtschaffene Ehefrau könnte so etwas niemals verstehen. (Isabella Reicher / Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 28./29.4.2012)