Der Film "Martha Marcy May Marlene": Gruppendynamische Kräftespiele in idyllischem Ambiente.

Foto: abc-film

Wien - Eine Idylle, wie sie sich US-Autor Henry David Thoreau ausgemalt hat, um der industrialisierten Welt den Rücken zu kehren, ist die Farm dieses Films nur auf den ersten Blick. Einige Männer leben hier mit Frauen in der Überzahl im Kollektiv, man teilt sich Bett und Essen, geht mit Zuwendung großzügig um und plant, irgendwann in naher Zukunft autark zu werden. Einer ist allerdings gleicher als die anderen: Patrick (John Hawkes), der wortkarge, aber physisch umso bedrohlicher wirkende Guru der Truppe. Ihm ist es vorbehalten, die Frauen in einem schmerzhaften nächtlichen Initiationsritual willkommen zu heißen.

"Martha Marcy May Marlene" erzählt vom Alltag dieser sektenhaften Gruppe allerdings nur in ausschnitthaften Erinnerungen der Titelheldin Martha. Am Anfang des Films sehen wir, wie sie aus der Gemeinschaft flieht - US-Regisseur Sean Durkin, der mit diesem nuancierten Drama sein vielbeachtetes Debüt gibt, belässt es bei Andeutungen, was genau sie zu diesem Schritt motiviert hat.

Das Thema der Sekten oder Kommunen zugehörigen Gewalt wird hier nicht sensationalistisch behandelt, sondern dient als Bezugspunkt eines leisen, hintergründigen Psychogramms. Martha, die bei ihrer Schwester Lucy (Sarah Paulson) Unterschlupf findet, erweist sich dabei als eine so unsichere wie verunsicherte Heldin. Durkin hat für seinen Film mit Elizabeth Olsen eine großartige Hauptdarstellerin zur Verfügung, der es gelingt, lange offenzuhalten, ob Martha sich bloß sonderbare Verhaltensformen zugelegt hat oder tatsächlich unter einer psychischen Störung leidet.

Das Miteinander zwischen ihr und Lucy sowie deren Architektenfreund Ted (Hugh Dancy) erweist sich bald als schwierig, nicht nur weil das wiedergefundene Familienmitglied per se eine Gefährdung des Paarglücks darstellt, sondern weil Martha in dem lichten Haus am See tatsächlich ein Fremdkörper bleibt. Für die unvermeidlichen Irritationen zwischen den dreien zeigt Durkin allerdings noch am wenigsten Gespür. Stilsicher sind hingegen die Übergänge zwischen den konträren Welten inszeniert, die sich oft unmerklich entlang des Motivs Wasser vollziehen, wohl auch ein Verweis darauf, dass sich Martha in der Gemeinschaft wie bei einer Taufe wiedergeboren fühlen sollte - nicht umsonst wird sie von Patrick Marcy May genannt.

Dessen gefährliche Mischung aus Charisma und gewaltbereiter Autorität verleitet die junge Frau und ihre Genossinnen auch dazu, zunehmend Kontrolle abzugeben. Die streng kadrierten Einstellungen, in denen die Bildtiefen oft in Unschärfen getaucht sind, unterstreichen den Eindruck einer Isolation, die auch in der neuen Umgebung nicht aufgehoben wird. Ein britischer Kritiker ging wohl deshalb so weit, den Film als den österreichischsten Film zu bezeichnen, der jemals in Amerika realisiert wurde.

Abgesehen davon, was dies über das Bild unseres Landes im Ausland erzählt, ist dies kein schlechtes Zeugnis: Denn Durkin fügt mit erstaunlicher Sicherheit ambivalente Szenen ineinander, die den Film ein Stück weit in Richtung Hillbilly-Thriller treiben, ohne die Sache allzu eindeutig zu machen. Hier bleiben tatsächlich viele Fragen offen. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 26.4.2012)