Trost von Fremden: Eine Krankenschwester (Aggeliki Papoulia) besucht in Yorgos Lanthimos' Spielfilm "Alpis" einsame Menschen und mimt dabei ihnen Nahestehende.

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Yorgos Lanthimos: Es gibt kaum mehr Geld für Filme.

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Wien - Wie schon in seinem ungewöhnlichen, Oscar-nominierten Familiendrama Dogtooth (2009) spielt auch Alpis (Alps), der neue Film des Griechen Yorgos Lanthimos, auf mehreren Realitätsebenen. Im Mittelpunkt des fragmentarisch erzählten Films steht eine Art therapeutisches Projekt, das eine sonderbare Geheimgruppe initiiert hat: Deren Mitglieder dringen in das Dasein fremder Menschen ein, die kürzlich jemanden verloren haben oder auf andere Weise mit ihrem Leben hadern, um eine Zeitlang als Stellvertreter zu agieren. Alpis ist eine (auch komische) Auseinandersetzung über den Umgang mit sozialen Rollen, zugleich ein Film, der Realismus im Kino endlich einmal lustvoll experimentell verhandelt.

Standard: Sowohl in "Dogtooth" als auch in "Alpis" geht es um falsche oder imaginäre Realitäten. Wo sehen Sie die Verbindungen?

Lanthimos: Für mich gibt es vor allem eine Ähnlichkeit, was den Tonfall betrifft - das liegt schon daran, dass die Filme dieselben Leute geschrieben haben. Was mir noch auffiel, allerdings erst im Nachhinein, ist, dass sich die Filme konträr zueinander verhalten. In Dogtooth ging es darum, aus der erfundenen Realität der Eltern zu entfliehen, nun versucht jemand, der draußen ist, in eine Ersatzwelt hineinzukommen.

Standard: Haben Sie Skepsis gegenüber dem Realen?

Lanthimos: Ich schätze die Realität dafür, dass sie mir die Möglichkeit gibt, diese Experimente anzustellen und diese Alterativen auszuhecken! Diese Widersprüche zwischen den Welten machen das Ganze ja erst wertvoll.

Standard: Die Gruppe verfügt über sehr spezifische Regeln. Wie sind Sie auf die Idee zu diesem sozialen Hilfstrupp gekommen?

Lanthimos: Eher willkürlich. Die Regeln im Presseheft haben wir erst geschrieben, als der Film fertig war. Am Beginn stand die Figur der Krankenschwester. Wir benötigten jemanden, der leicht Zugang zu Leuten findet, die jemanden verloren haben. Sie kann sich Trauernden in einem Moment nähern, an dem sie verwundbar sind. Es ist auch ironisch: Sie sollte den Leute ja helfen, aber dann bietet sie diese Alternative an.

Standard: Sie beurteilen sie aber nicht.

Lanthimos: Nein, denn man kann es auf mehrere Arten sehen: Einerseits nützt sie die Menschen aus, sie nimmt ja Geld an, doch sie hilft wohl auch dem einen oder anderen damit. Diese Ambivalenz interessierte uns. Die Krankenschwester benötigte natürlich Mitarbeiter. Wir wollten auch Leute aus ganz anderen Bereichen, sodass eine andere Dynamik in der Gruppe entsteht. Wir wussten nicht, wohin uns das alles führen würde ...

Standard: Es gibt mehrere Vaterfiguren im Film - geht es Ihnen um eine Art Krise solcher Autoritätspersonen?

Lanthimos: Wir haben nicht bewusst daran gedacht. Es ging uns weniger um Familie als um unterschiedliche soziale Situationen: mit einem Liebhaber, einem Kind, einer blinden Frau ... Wir wollten Situationen erforschen, in die die Gruppe eindringen konnte, um zu sehen, zu welchen Ergebnissen dies führen würde.

Standard: Der kranke Mann bei der Krankenschwester daheim - ist das denn überhaupt ihr Vater?

Lanthimos: Es gibt keinen Weg, das wirklich herauszufinden. Man soll sich in den Wirklichkeiten verlaufen (lacht). Wir haben versucht, es so real wie möglich erscheinen zu lassen, sie kommt zu ihm in ihrer privaten Kleidung, sie hat den Schlüssel zur Wohnung ... Viele Zuseher hinterfragen das trotzdem, und das soll auch so sein - obwohl wir es an dieser Stelle nicht forciert haben.

Standard: Der Film ist bewusst rätselhaft konstruiert. Zu Beginn ist alles sehr fragmentarisch - man muss sich die Teile wie bei einem Puzzle zurechtlegen.

Lanthimos: Ich finde es interessanter, wenn sich die Dinge erst nach und nach freilegen und man nicht gleich alles versteht. Es lässt andere Erwartungen entstehen. Die Zuschauer können sich mehr mit den Bildern auseinandersetzen. Vielleicht denken sie dann auch anders darüber - ich jedenfalls genieße es, wenn mich ein Film dazu bringt, kreativer zu sein.

Standard: Gemeinsam mit Athina Rachel Tsangari, mit der Sie auch gemeinsam produzieren, gehören Sie zu einer jungen Generation griechischer Filmemacher. Gibt es auch ein gemeinsames Anliegen?

Lanthimos: Athina und ich mögen uns gerne und haben uns deshalb immer ausgetauscht. Dass wir wechselseitig die Filme des anderen produzieren, liegt aber auch daran, dass es gar keinen anderen Weg gibt. Es existieren noch andere Teams innerhalb unserer Generation, es handelt sich also nicht um eine einzige Gruppe, die das neue griechische Kino bestimmt.

Standard: Gibt es denn noch Unterstützung von der Regierung?

Lanthimos: Nur sehr wenig. Es war schon viele Jahre lang sehr schwierig für junge Filmemacher. Die Gesetze waren nicht sehr praktikabel, um Geld von privaten Geldgebern zu bekommen - das hat sich nun geändert, allerdings zu einer Zeit, in der es überhaupt kein Geld mehr gibt.

Standard: Tsangari sagte einmal, dass der griechische Staat wie eine Familie agiert: Man hilft nur den Leuten, die dazugehören. Gibt es darauf ein Echo in Ihren Filmen?

Lanthimos: Ich glaube, solche Gedanken fließen eher unbewusst in die Filme ein. Da das ganze System so aufgebaut ist, kommt man an diesen Notwendigkeiten gar nicht vorbei. In dem Grundgefühl, das sich in den Filmen ausdrückt, gibt es wohl viel Argwohn über den Stand der Dinge. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 16.4.2012)