Aufrufe und Slogans an Hauswänden in ländlichen Gebieten Yunnans...,

Foto: An Yan

..., die von den meisten Anwohnern auch gelesen werden können.

Foto: An Yan

Wenn man Bewohner von Macao, Hongkong oder Taiwan fragt, dann hat China 1956 seine Seele verkauft. Das war das Jahr, als die Regierung die Reform der chinesischen Schriftzeichen beschloss, die die wichtigsten Zeichen erheblich kürzte - oder verstümmelte, wie die Gegner der Reform noch heute sagen.

Kürzen und Vereinfachen

Die Volksrepublik China hatte in einer großangelegten Reform Wissenschaftler damit beauftragt, die wichtigsten komplexeren Zeichen zu kürzen. Dabei wurden nicht nur nach Belieben neue Zeichen erfunden, sondern einerseits auf alte Texte zurückgegriffen, die bereits gekürzte Zeichen verwendeten. Dichter der Tang-Dynastie, die für die Blüte der chinesischen Literatur steht, haben beispielsweise eigene Kurzzeichen verwendet. Zudem wurden systematisch Punkte zu Linien verbunden oder weggelassen. Teilweise wurden auch mehrere Langzeichen mit ähnlicher Bedeutung und Schreibweise zu einem einzigen neuen Kurzzeichen zusammengefasst. Kurzzeichen werden seitdem horizontal von links nach rechts geschrieben; traditionelle Zeichen von oben nach unten und rechts nach links.

Emanzipatorische Reform

Modern ausgerichtete Intellektuelle hatten bereits zu Beginn des 20ten Jahrhunderts die Einführung solcher Vereinfachungen gefordert, um die Beherrschung der Schrift nicht nur dem Adel zugänglich zu machen, der sich aufgrund seiner Reichtümer eine jahrelange Ausbildung leisten konnte. Auch Bauern und Arbeiter sollten schreiben und lesen können. Diese "grausame Beschneidung" mag durchaus auch politisch gegen die konkurrierende Regierung Taiwans gerichtet gewesen sein, wie einige munkeln - doch es gab auch genügend emanzipatorische und praktische Beweggründe.

Konkret bedeutet die Reform, dass man für "hören" beispielsweise, ein Schriftzeichen das traditionell mit 22 Strichen geschrieben wird, nur noch sieben Striche schreiben muss. Die teilweise extreme Vereinfachung der Zeichen hat zur Folge, dass man viel schneller und einfacher schreiben kann, die Zeichen sind auch deutlicher und schneller zu erkennen und lesen. Gerade handgeschriebene traditionelle bzw. Langzeichen sehen je nach Schrift aus wie schwarze große Punkte, während die sogenannten Kurzzeichen sehr viel einfacher zu entziffern sind. Im Zeitalter von Computern mag dieser Vorteil nicht mehr viel wiegen, aber vor einem halben Jahrhundert war das eine wichtige Überlegung.

Nicht alle folgen der Reform

Da Hongkong, Macao und Taiwan zu der damaligen Zeit noch nicht zur Volksrepublik gehörten, betraf die Reform sie nicht, und sie wurde in den beiden Sonderverwandlungszonen (noch) nicht nachgeholt. Auch die zahlenmäßig nicht zu unterschätzenden Communities der Chinesen im Ausland weigerten sich aus oft praktischen Gründen, dieser Reform zu folgen. Singapur folgte ihr erst einige Jahre später. Sie behielten die traditionellen Zeichen bei, von denen nicht wenige Chinesen schwärmen, dass sie die einzig "wirklichen" Zeichen sind, da sie auf das chinesische Altertum zurückgehen und somit die Kultur Chinas per se darstellen. Sie sehen sich somit als die "Bewahrer der chinesischen Kultur"; nicht umsonst ist das chinesische Zeichen für "Kultur" dasselbe wie für "Zeichen" oder "Schrift", in traditioneller wie auch in reformierter Schrift.

Kritik

Die Vereinfachung der Zeichen, kritisiert ein Freund aus Macao immer wieder, bedeutet einen Bruch mit der eigenen Vergangenheit; man könne die Zeichen der alten Klassiker nicht mehr lesen - dies war zuvor der Fall gewesen. Zudem bestehen Zeichen aus einem guten Grund aus den jeweiligen Bestandteilen; sie alle tragen zur Bedeutung bei. Wenn man aus "hören" das Bestandteil von "Ohr" kürzt, was hat dann das sichtbare Zeichen noch mit seiner Bedeutung zu tun? Nicht viel, aber viel mehr Menschen können es lesen und vor allem schreiben.

Einige Bekannte mit Universitätsabschluss aus Hongkong oder Macau gestanden mir, dass sie kaum selbst schreiben können. Die Benutzung von Computern, die auf dem passiven Erkennen der Zeichen besteht, macht die aktive Beherrschung der Zeichen obsolet. Und wenn ein Zeichen 22 statt sieben Striche hat, dann tut man sich noch schwerer, es sich zu merken. So gesehen verkaufte China seine Seele, um Alphabetisierung dafür zu bekommen.

Ein Blick in die Statistik von Wikipedia gibt der chinesischen Regierung tendenziell Recht: Hongkong hat mit über sechs Prozent Analphabeten bei gleichem oder sogar höherem Entwicklungsstand eine wesentlich höhere Quote als beispielsweise Peking mit 1,7 Prozent. In Macau liegt diese bei fast neun Prozent der Bevölkerung nicht lesen und schreiben. China gibt seine durchschnittliche Alphabetisierungsquote mit 95,92 Prozent an; das entspricht der von Taiwan, das die stets die Überlegenheit der eigenen Entwicklung betont. Chinas Quote beinhaltet dabei auch zahlreiche ländliche Gebiete und die Autonome Region Tibet, wo über 37 Prozent der Bevölkerung nicht schreiben und lesen kann. Wie immer muss man Statistiken von und über China aber kritisch gegenüberstehen.

Dass die Volksrepublik sich vollkommen von ihren kulturellen bzw. schriftlichen Wurzeln abwendet, ist auch nicht richtig: Untertitel für Filme und gerade für das beliebte Karaoke sind meist Langzeichen, da in Taiwan oder Hongkong produziert. Viele Festlandschinesen können die wichtigsten traditionellen Zeichen durchaus lesen. Seit 2007 ist die Koexistenz von Lang- und Kurzzeichen auch offiziell wieder geduldet. (An Yan, daStandard.at, 17.4.2012)