Qualmendes Inferno in Ballard Estate: Dicke Rauchschwaden wachsen durch Mumbais Beamtenviertel, lassen die Scooter-Herden im Blindflug zurück, tauchen Geschäfte und altmodische Buttermilchtheken hinter einen dichten, wabernden Vorhang. Aber das zugehörige Flammengeprassel sucht man trotzdem vergebens.
Es ist lediglich Pest Control angesagt, städtische Ungeziefervertilgung. Das verrät Herr Boman Kohinoor, der wörtliche "Berg aus Licht", der wie ein Fels in der Brandung im vernebelten Ballard-Viertel steht, noch dazu vor seinem eigenen Café, dem "Britannia". Aber weil Herr Boman Kohinoor auch ein Schatz ist, spendiert er einen Teller Berry Byriani, die berühmteste Delikatesse seines Farsi-Lokals, und legt stolz ein Schreiben der Queen über die Speisekarte. Zum Nachtisch aber serviert er die Geschichte der Farsi, zugezogener Iraner, die Mumbai einst eine Reihe von historischen Cafés bescherten - heute urige Felsen im Fluss der neueren Gastromoden.
Mumbai hat einige solcher "Irani Cafés". Das "Brabourne" aus dem Jahre 1934. Das "Jimmy Boy Café" an der Bank Street. Vor allem aber hat es viele solcher Geschichten, die sich hinter den alten Tintenburgen und Ämtern von Ballard Estate aufstöbern lassen.
Ums Eck von Kohinoors "Britannia Café" liegt das "Studio Hamilton". Überschreitet man die Schwelle zum staubigen Atelier und streift dabei an den Messingglöckchen in der Türöffnung an, dann läuft der Film plötzlich siebzig Jahre zurück. Der alte Tata, damals noch Milliardär der ersten Stunde, zählte zu den Kunden, sagt der weißhaarige Fotograf des "Studio Hamilton" und bietet - schweren Herzens, aber doch - seine alte Plattenkamera zum Verkauf an. Als Draufgabe gibt es eine echte Rarität: ein altes Foto vom Marine Drive, der Seeufer-Promenade an der Back Bay. Die Art-déco-Türmchen der Entenhausen-Wolkenkratzer waren damals noch funkelnagelneu, die Gassen wie leergefegt.
Bombay ohne Traffic Jam, das ist schon etwas länger her. So wie die Erfindung des Masala-Cola - Steinsalz, Pfeffer, Kreuzkümmel, Zitrone, Cola -, das in den Resopalsitznischen der älteren Stadtviertel serviert wird, rund um jene repräsentativen Straßenzüge, die sich weiterhin voll Stolz aus dem Gewühl der schwarzgelben Fiat-Taxis und der britisch inspirierten Doppeldeckerbusse schälen.
Der von Erkerchen überzuckerte Victoria Terminus zählt dazu, den alle nur ViTi nennen - der Umbenennung in Chhatrapati Shivaji Terminus zum Trotz. Oder die marmorblass schimmernden Kuppeln des Prince of Wales Museum - eines weiteren der von gotischer Kirchenarchitektur inspirierten Bauten des britisch-viktorianischen Bombay.
Auch der Blick auf die chronischen Cricket-Enthusiasten des Oval-Maidan- Rasens, auf die entrückte milchblaue Welt der Keneseth-Eliyahoo-Synagoge und die lauschigen Blumenrabatte des Horniman Circle macht sicher: Im Fort District bleibt sich das alte Bombay selbst treu.
Doch rollt man durch die zuckenden Schweißbrennergewitter, die Mumbais internationalen Chhatrapati Shivaji Airport heute weiterwachsen lassen, dann erschließt sich eine ganz andere Stadt, nämlich Greater Mumbai, in der die Taxifahrer fragen, in welches Mumbai die Reise denn dieses Mal gehen soll: In das der umliegenden Vorstädte? Und wenn ja, in welche? In das ehemalige Fischerdorf Bandra, heute die neue Wohlfühloase der Reichen und Clubber? Oder an den kaum weniger angesagten Juhu Beach in relativer Nähe zum Airport, hinter dem andererseits ja auch Andheri liegt - eine weitere Suburb, die Altbombay soeben mit hundert Sachen und auf der Lifestyle-Spur überholt.
Shopping-Malls und Multiplex
Shopping-Malls und Multiplex-Kinos wie der Lokhandwala Complex beweisen das auf den ersten Blick, während Zuzügler aus allen Teilen des Landes längst einen multiethnischen panindischen 20-Millionen-Großraum entstehen haben lassen, der Gucklöcher auf die zahllosen Facetten des umliegenden Vielvölkerstaats erlaubt. Big Mango könnte man dieses Mumbai nennen. Und der Biss fällt herzhaft aus, spiegelt die regionale Vielfalt auch in der Kulinarik wider: bengalischer Süßwasserfisch und Tandoori Grill aus dem Punjab, nordindische Currys mit dickem Butterschmalz, Kashmiri-Pulao-Reis und die Linsenmehl-Crêpes tamilischer Udipi-Lokale - die Communitys aus den Bundesstaaten bleiben ihren regionalen Küchen treu.
Auch der neue "shortcut" des in weitem Bogen übers Meer geführten Bandra-Worli Sealink - Mumbais Antwort auf Golden Gate & Co - ist ein Vorgeschmack auf dieses neue Mumbai. Wie bei einem nächtlichen Harfenkonzert fliegen die Drahtseile der gut fünf Kilometer langen Seebrücke unterwegs vorbei, die nun die boomenden westlichen Vororte Bandra und Worli unkompliziert verbindet. 50 Rupien kostet die Hightech-Kurve übers Meer - und beschert am Ziel einige Takte Bollywood-Party.
Zum Milieustudium taugt die im Stadtteil Worli gelegene Rooftop Bar "Aer". Businessleute mit schnurgeradem Seitenscheitel und etwas schiefem Gang schieben sich da durchs magentafarbene Licht - und vor einen kreisrunden Tresen, der wie ein Ufo über dem industriell geprägten Stadtviertel schwebt. Das "Aer" mag ein gutes Stück von den alten In-Locations entfernt sein. Umso kürzer ist aber der Weg von den weißen Designersofas der 360°-Panorama-Bar auf die Neidseiten der lokalen Klatschpresse.
Doch Worli und das unmittelbar angrenzende Viertel Lower Parel bieten mehr als Seitenblicke auf "Bom-Babes", wie lokale Lästermäuler Mumbais Society-Schöne nennen. Spielen sich hier doch die ersten Gentrifizierungsprojekte des Subkontinents ab: Aufgelassene Textilspinnereien wie die Raghuvanshi Mills, die heute das Prinzip "Industrie-Loft" einführen, stehen dabei im Mittelpunkt.
Und Plätze wie die "Good Earth Company": ein Lifestyle-Universum aus Café und Design-Galerie, das dank Ethno-Chic und der bunten Farbpalette Indiens wie das Abziehbild eines New Yorker Clubs wirkt - und doch vor allem die eigenen Wurzeln freilegt. Neben Indo-Fusionsküche und trendigen Rohseideklamotten im modern interpretierten Mahatma-Style inkludiert das neuerdings auch Weinstockwurzeln des umliegenden Bundesstaats Maharashtra. Denn auch die Degustation indischer Weine, und zwar aus dem nicht allzu weit entferntem Nasik, zählt zu den neusten Trends. Momentan besonders hoch im Kurs: rubinroter Shiraz aus den Sula Vineyards des Godavari-Tals, einer Art indisches Napa Valley. (Robert Haidinger/DER STANDARD/Rondo/13.4.2012)