Kai Hensel, "Das Perseus-Protokoll", Frankfurter Verlagsanstalt 2012, 316 Seiten, 19,90 €

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In modernen Gesellschaften ist die Krise mehr oder weniger zum Dauerzustand geworden. Wenn ausnahmsweise irgendwo die Wirtschaftsdaten positiv sind und die Arbeitslosenrate sinkt, steigt mit Sicherheit gleichzeitig die Globaltemperatur, und ein Nachbarland wählt einen Rechtspopulisten. Zum Alltag des Lebens mit Krisen gehören auch die Worst-Case-Szenarien: Was passiert, wenn vieles zugleich schiefgeht?

Regierungen und Behörden neigen dazu, derlei "Drehbücher" für die Wirklichkeit nicht zu veröffentlichen. Also übernehmen die populären Medien diese Funktion und malen das Schlimmstmögliche aus, vom Meteoriteneinschlag bis zum weltweiten Seuchenausbruch.

Für die spezielle Krise in Griechenland hat der 47-jährige deutsche Autor Kai Hensel jetzt ein bemerkenswertes Szenario vorgelegt: Das Perseus-Protokoll denkt die politische Logik der Finanzkrise im südöstlichen EU-Grenzstaat bis zu einem schrecklichen Ende. Literarisch gesehen ist es ein Versuch, ein im anglophonen Raum schon bestens etabliertes Verfahren auch im deutschsprachigen Raum aufzugreifen: Realitätsnahe, faktensatte Fiktionen zu entwerfen, die eine schwer durchschaubare Wirklichkeit auf die Formeln der Genre-Logik bringen.

Angst (The Fear Index) von Robert Harris wäre ein aktuelles Beispiel. Das wichtigste Element dieser Logik liegt in der Regel darin, dass es eine einzelne Figur ist, deren Aufgabe es wird, die unübersichtliche Lage zu entziffern, in die sie gerät.

Bei Kai Hensel liegt eine nicht geringe Pointe darin, dass er eine deutsche Touristin zu dieser Identifikationsfigur macht: Maria Brecht liegt zu Beginn am Strand von Kreta, am Ende hat sie Unglaubliches erlebt, sich aber auch als die vermutlich einzige Person erwiesen, die da durchsteigen konnte.

Hensel wendet sich mit dieser Figur natürlich an sein primäres Lesepublikum, er bekommt damit aber auch gleich ein wesentliches Element der "Pädagogik" seines Buches in den Blick: Denn bisher denken die meisten Medien in den reichen EU-Ländern beim Stichwort Krise an die Sparbücher der kleinen Leute (oder an die Inflation, die die EZB vielleicht gerade heraufbeschwört). Man denkt also (zu) kurz.

In Das Perseus-Protokoll hingegen geht es darum, sich eine spezifische Vorstellung davon zu machen, welche schlimmen Folgen die gegenwärtige Zwickmühle in Griechenland selbst haben könnte - diese Arbeit hat sich die deutsche Öffentlichkeit trotz vieler guter Berichte aus dem Land bisher nicht gemacht. Man verrät über die Spannungskurve des Buches nicht zu viel, wenn man benennt, dass Hensels waghalsige Thrillerkonstruktion um verschiedene Formen des Staatsstreichs kreist.

Damit ruft er erstens in Erinnerung, dass Griechenland eine vergleichsweise junge Demokratie ist (wie auch Portugal und Spanien). Noch 1967 fand dort ein Militärputsch statt, erst 1974 konnte die heutige Ordnung hergestellt werden, bis heute ist das Verhältnis zum Staat auch von einem historischen Mangel an etatistischer Tradition geprägt. Was es bedeutet, wenn in einem Land der EU die demokratischen Institutionen in die Krise geraten, wird in der Finanzrhetorik, von der die Griechenlandkrise begleitet wird, zwar nicht übersehen, aber unterbelichtet.

In Das Perseus-Protokoll wird diese Möglichkeit überbelichtet. Und sie wird - in einem Buch, das zugleich einfach und kompliziert ist - mit einer noch viel radikaleren Möglichkeit zusammengedacht: dass nämlich ein politischer Staatsstreich seinerseits nur ein "Theater" sein könnte, das wiederum die Interessen von Kapitaleignern verbirgt. Dazu passt, dass in vielen Foren derzeit die Beziehungen der südeuropäischen Regierungen zur Investmentbank Goldman Sachs thematisiert werden, und zwar durchaus im Sinne unterschiedlich ausdrücklicher Verschwörungsszenarien.

Tiefenscharfes Szenario

Es gehört zu den Usancen des Thrillergenres, ständig neue Kippbilder zu schaffen, die es erlauben, eine vertraute Wirklichkeit plötzlich anders zu sehen. Was Maria Brecht in Griechenland erlebt, ist eigentlich eine Rettungsmission, bei der sie nur ein Mandat hat: ihren eigenen Überlebenswillen.

Das ist die tröstliche Kehrseite dieses Typs Erzählung: dass ein Individuum sich als "Sand im Getriebe" der großen Manipulationen erweisen kann. Dass Maria Brecht Karate kann und bemerkenswert reaktionsschnell ist, schadet da nicht, aber diese Freiheiten muss man dem Konstrukteur einer solchen Geschichte eben lassen. Es geht nicht um Plausibilität im Detail, sondern um die Logik des Verlaufs.

In dieser Hinsicht erweist sich Das Perseus-Protokoll als zwar spekulatives, aber eben auch nachkriegshistorisch tiefenscharfes Szenario eines schlimmstmöglichen Falles. Ob dieser wirklich eintritt oder nicht, entscheidet ja nur in Kai Hensels Buch der Autor. In der Wirklichkeit entscheiden über die Möglichkeit eines "kalten Staatsstreichs" (Joseph Vogl) alle. Und manchmal sind die Leser von Thrillern die besseren Demokraten, weil sie Misstrauen und Empathie zugleich üben. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 12.4.2012)