Eine zeitgenössische Zeichnung zeigt das "Vermieten" der Kinder nach der Ankunft in Ravensburg.

Foto: Bauernmuseum Wolfegg

Eine Familie in den Alpen im Jahr 1907, die Kinder nach Oberschwaben schickte.

Foto: Bauernmuseum Wolfegg

Ein authentischer Hof im Bauernhaus-Museum Wolfegg vermittelt den damaligen Arbeitsalltag.

Foto: Bauernmuseum Wolfegg

Wolfegg - Schwer wiegen die "Hölzler" an den Füßen des achtjährigen Anton Bereuter. Nur mit Papier ausgestopft, gegen die Nässe, sollen ihn die klobigen Holzschuhe über die verschneiten Pässe des Bregenzerwalds tragen. Das war 1916, und Bereuter war ein "Schwabenkind". Eines von tausenden, die aus blanker Not von ihren Familien in Tirol, Vorarlberg oder Graubünden jedes Jahr im März nach Oberschwaben geschickt wurden, um den Sommer über dort auf einem Bauernhof zu arbeiten. "Faktisch aber, um einen Esser weniger am Tisch zu haben", sagt Elmar Bereuter, Antons Sohn, heute.

Das Phänomen des "Schwabengehens" ist zum ersten Mal zu Beginn des 17. Jahrhunderts belegt und hielt über vier Jahrhunderte an, bis in die 1930er-Jahre. Und es belastete das Leben der betroffenen Familien und Dörfer schwer. Ein EU-Projekt unter der Beteiligung von Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien greift dieses schwierige Kapitel alpenländischer Geschichte nun auf.

Ausstellungen zum Thema

Zahlreiche Gemeindearchive und Museen zeigen Ausstellungen zum Thema. Zum einen sollen die Wege der "Schwabenkinder" für Wanderer nach-erlebbar, zum anderen die Bedingungen, unter denen die Kinder damals arbeiten mussten, anschaulich gemacht werden. Das Bauernhaus-Museum in Wolfegg ist ein Zielpunkt der neu gekennzeichneten Themenwanderwege, welche die Herkunftsregionen der "Schwabenkinder" mit ihren historischen Arbeitsorten verbinden.

Hier erfahren Besucher in einer Dauerausstellung mehr über das Leben der " Schwabenkinder" auf den Höfen. Die unterschiedlichen Schicksale der Kinder im 19. Jahrhundert werden im Museum auf nachgesprochenen Tondokumenten hörbar gemacht. Etwa das von Franz Kohler aus Vorarlberg, der "keinem Hund so eine bittere Jugendzeit wünschen" wollte. Oder jenes von August Begle, der angeblich eine böse Kuh gezähmt hat. Ein authentischer Hof im Bauernhaus-Museum Wolfegg lässt den damaligen Arbeitsalltag mit all seinen erstaunlichen Details wieder aufleben.

"Kaum einer hat noch davon gewusst"

"Die Geschichte war fast am Verschwinden", sagt Elmar Bereuter über das Schwabengehen, "kaum einer hat noch davon gewusst." Er schrieb 2002 einen Roman darüber, Die Schwabenkinder, der mit Tobias Moretti in einer Hauptrolle verfilmt wurde. Das darin nachgezeichnete Schicksal steht exemplarisch für viele andere. Der Weg führte über verschneite Bergpässe, durch enge Schluchten und vorbei am Kapuzinerkloster in Bregenz, wo es etwas zu essen gab.

Später, ab den 1890er-Jahren, ging es auch auf dem Wasserweg nach Oberschwaben. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt die Ankunft eines Bodenseedampfers in Friedrichshafen. An Bord drängen sich eng aneinander hunderte "Schwabenkinder", manche erst fünf oder sechs Jahre alt. Es sind Bilder wie von einem Flüchtlingsschiff - was es gewissermaßen auch war.

Schritte in eine ungewisse Zukunft

In Friedrichshafen war der Weg zum sogenannten " Hütekindermarkt" nicht weit. Von der Mole nur ein paar Schritte. Aber es waren Schritte in eine ungewisse Zukunft. Welcher Bauer würde sie zu welcher Arbeit mitnehmen, würden Geschwister getrennt werden? Buben aus Vorarlberg etwa wurden bevorzugt bei der Arbeit mit der Sense eingesetzt. Sie hatten schnelle Hände und waren an Bergwiesen und steile Hänge gewöhnt.

Zwei Drittel der Hütekinder wurden gleich in Friedrichshafen vermittelt. Die Atmosphäre dieser Kindermärkte muss auf ausländische Journalisten so befremdlich gewirkt haben, dass 1908 in der US-Presse Vorwürfe der "Sklavenhalterei" laut wurden. Diese schwappten zurück in die Alpenländer und lösten heftige Diskussionen aus. Starke Widerstände gab es anfangs von allen Seiten, als Elmar Bereuter begann, die Geschichte der "Schwabenkinder" aufzuarbeiten. "Ich erhielt sogar Morddrohungen", sagt er kopfschüttelnd. 

Großes Interesse

Mittlerweile aber herrscht großes Interesse. Bereuter selbst wurde auf der Alm in Vorarlberg geboren, musste aber nicht mehr den "Hungerweg" antreten. Sein Vater musste als Achtjähriger in die Fremde und mit 16-jährigen Burschen Balken schleppen: "Es hat ihm als Kind das Rückgrat verschoben, davon bekam er schließlich einen Buckel." Der heute 63-Jährige sucht nach Worten. Das Thema geht ihm nahe.

Jahre hat Bereuter damit verbracht, das Schicksal und die Wege der "Schwabenkinder" zu recherchieren und bekannt zu machen. Sein Wanderführer Schwabenkinder-Wege in Oberschwaben" (Bergverlag Rother) beschreibt verschiedene Routen von Bregenz nach Friedrichshafen und Wolfegg. Die Ausblicke sind teilweise grandios. Die Wanderung von Bildstein nach Wolfurt ist so ein Teilstück, der Weg beschert immer wieder herausragende Sicht auf Bodensee und Bergwiesen.

Sinn für das Schöne werden die Kinder damals nicht gehabt haben. Bis zu 45 Kilometer mussten sie am Tag zurücklegen, mit Auf- und Abstiegen. Der " Bereuter Weg" in Bildstein ist der älteste Zugang zum Bregenzerwald, schmal, aber über Jahrhunderte ausgetreten. Eng windet sich der Weg hinab, man kann sich vorstellen, wie beschwerlich das mit Holzschuhen gewesen sein muss. (Torben Dietrich, DER STANDARD, 10.4.2012)