Ein Blick auf die Anklagebank des Steiner Hauptverbrecherprozesses. "Die Gesamtzahl der Ermordeten bleibt bis heute unbekannt", hält Konstantin Ferihumer in seiner Masterarbeit fest.

Foto: Zvacek/Österr. Nationalbibliothek

Wien - Sechzig Jahre trägt Herr K. das Geheimnis mit sich herum. Noch heute fürchtet er um seinen Ruf. Deshalb spricht der 82-Jährige mit dem Standard nur unter der Bedingung, dass es keine Fotos gibt und auch sein Name nicht verraten wird.

Herr K. war nach eigenen Angaben Zeuge eines grausamen Verbrechens. Einem Verbrechen, das vor 67 Jahren in Niederösterreich beim damaligen Zuchthaus Stein geschah. Und über das in der Region bis heute nicht gerne gesprochen wird.

Diese Woche jährt sich der Tag, der sich in K.'s Leben für immer eingeprägt hat: Anfang April 1945, die sowjetischen Truppen stehen schon südlich von Wien, gehen im Gefängnis Stein die Lebensmittelvorräte zur Neige. Der Anstaltsleiter Franz Kodré trifft eine folgenschwere Entscheidung. Er lässt die Häftlinge frei. Die Sache habe sich schnell herumgesprochen, erinnert sich K. Er selbst habe in Krems "ein paar so Typen herumgehen gesehen". Von der Kreisleitung wird eine Gruppe aus Volkssturm, SS, SA und Wehrmacht entsandt, die noch im Gefängnishof 229 Insassen erschießt. Ein paar Aufseher und der Anstaltsleiter werden vor Ort hingerichtet. Die Jagd auf Entlassene - viele davon sind politische Gefangene aus Griechenland - ist eröffnet.

In Hadersdorf am Kamp und Umgebung werden mehr als 60 weitere Flüchtende auf dem lokalen Friedhofsgelände ermordet. Heute geht man von 386 Opfern dieses Massakers aus - die Dunkelziffer dürfte höher sein. "Das war vom Direktor gut gemeint, aber es ist schlecht ausgegangen", sagt K.: "Die Nazi-Seite hat sofort eingegriffen. Ein paar so Plutzer sind schnell dabei mit dem Gewehr. Im Krieg sowieso."

Hetze der Einheimischen auf Häftlinge

Ein Gedenkstein sowie ein Mahnmal erinnern heute an die Ereignisse, einzelne Aspekte sind bereits erforscht, Opfer und Angehörige interviewt.

Filmausschnitt: "Die Kremser Hasenjagd"

Der angehende Politologe Konstantin Ferihumer rollt nun in seiner in Kürze abgeschlossenen Masterarbeit die Hetze der Einheimischen auf die entlassenen Häftlinge rund um das Gefängnis noch einmal auf - und bündelt die vielen einzelnen Tatbestände der Kriegsendphase im April 1945 in dieser Region zum "Stein-Komplex".

Wochenlang war Ferihumer in der Gegend um Krems unterwegs, hat sich durch die Volksgerichtshofakten zu den im Anschluss stattfindenden Prozessen gekämpft und so auch Herrn K. ausfindig gemacht, der nun erstmals über seine Erlebnisse öffentlich berichtet. Wie er als Hitlerjunge dabei war, als zwei Kriegsgefangene aus Stein ermordet wurden.

K. lebt in der Nähe von Krems. Der 15-Jährige trifft zufällig auf zwei "Reichsdeutsche" mit ihren Gefangenen. "Das waren Ausländer. Ich weiß nicht mehr wieso, aber ich habe damals angenommen, es seien Griechen. Die haben ja auch nichts gesprochen. Sie trugen Zivilkleidung, keine Sträflingskleidung", erinnert er sich. Gemeinsam sei man zu einem Feldweg gegangen, und dann "haben die Soldaten sofort geschossen. Der eine ist davongelaufen, den haben sie in den Rücken geschossen. Der andere hat sich in eine Ackerfurche geworfen und wurde da getötet. Ich bin am Zaun gelehnt und habe nicht gewusst, wie mir geschieht." Dann wurde K. nach Hause geschickt, die Männer ließ man einfach liegen. Ihre Identität scheint nirgends auf, ob eine Exhumierung stattgefunden hat, ist offen, sagt Ferihumer.

K. wird wenig später verhaftet - und wegen Beihilfe verurteilt. "Sogar die Aufseher haben gesagt: Heute kommt der Freispruch - und dann bekomme ich zehn Jahre. Das war die Höchststrafe für Jugendliche." Im Gefängnis trifft der Junge auf einen der Hauptverantwortlichen des Stein-Massakers: Anton Pomassl, Betriebsleiter der Schusterei des Zuchthauses.

"Ein normaler Mensch"

"Der Pomassl war Schuster und hat fest Schuhe geklopft für die Aufseher und ihre Angehörigen", sagt K. Wie er ihn beschreiben würde? "Das war ein ganz normaler Mensch. Aber: Wissen Sie, in solchen Situationen wird mancher Mensch zum Viech. Die waren im Radl drinnen." In den Medien werde er als Sadist dargestellt, "in Wirklichkeit war er wie die Mehrheit der NS-Täter ein normaler Österreicher", sagt auch Ferihumer. Pomassl wird zum Tode verurteilt und gehenkt.

K. hat Glück. In der Revision wird das Urteil wegen Verfahrensfehlern aufgehoben, K. geht frei. Er erlebt die Nachkriegszeit bei seiner Familie, die ins Waldviertel gezogen war. Herr K. hat später sein Studium nachgeholt und war erfolgreich im Baugewerbe tätig. Seine alte Heimat hat er nie wieder besucht. Auch eigene Kinder kamen für ihn nicht infrage: "Ich habe mir immer gedacht, da wird wieder so ein Narr kommen, und ich will nicht, dass meinem Kind so etwas wie mir passiert." (Peter Mayr, DER STANDARD, 6.4.2012)