Günther Grass in den ARD-Tagesthemen, hier zum Nachsehen.

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Natürlich ist Günter Grass' Wahl der lyrischen Form (und des Dichters Schweigen hinterher) schon ein Teil der Inszenierung. Eine Deutung dieser freien Verse als unverhohlene Israelkritik fällt keineswegs schwer, aber ein klein wenig hermeneutische Anstrengung macht die Sache ergiebiger. Grass sprach in keinem unbedachten Moment - wie Lars von Trier vergangenes Jahr in Cannes: Es handelt sich um eine lancierte Provokation.

In dieser Hinsicht ist das Grass'sche Was gesagt werden muss auch ein kleines mediales Lehrstück - ein Bombe, die tatsächlich gezündet hat. Zwar ist es ein Merkmal gegenwärtiger medialer Realitäten, dass die Reaktions- und Empörungs lawine deutlich schneller an Form gewinnt. Doch wann wurde zuletzt ein Gedicht zum Aufmacher einer wichtigen Nachrichtensendung?

Ganze sieben Minuten widmete man Mittwoch bei den Tagesthemen auf ARD der Angelegenheit. Zeile für Zeile des "politischen Gedichts" wurde wiedergegeben und analysiert, anschließend folgten Reaktionen von Politikern, wobei Zustimmung allein von der Linken kam, während Dieter Graumann vom Zentralrat der Juden die harschesten Wort gegen Grass fand.

So sehr diese Zeilen, zumal in Deutschland, auch einen Nerv treffen, wundert man sich doch über die Verhältnismäßigkeit. Hat Grass überhaupt die moralische Autorität, die diese geballte Aufmerksamkeit rechtfertigt? Der Historiker Tom Segev fand die weisesten Worte: Er riet Grass gelassen, die letzten Tropfen seiner Tinte besser einem neuen Roman zu widmen als Strategien, von denen er nichts versteht. Eines ist sicher: Dieses Buch wird dann bestimmt kein Aufmacher sein. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 6.4.2012)