Früher blieb man höflich stehen. Als Touristen noch Filme einlegten und Papierbilder produzierten.

Foto: DER STANDARD

+++Pro
Von Ronald Pohl

Wer anderen Menschen ins Bild läuft, lässt die Tugend der Herzensbildung vermissen. Jahrelang hat sich ein greises Ehepaar aus, sagen wir, Nagasaki jeden Yen vom Mund abgespart. Was nicht direkt in der Reisschüssel landete, wurde unverzüglich ins Sparschwein gesteckt - soferne Japaner ihre Ersparnisse in Sparschweine stecken und nicht unter dem nächsten Kirschbaum vergraben (In Japan herrscht bekanntlich immer Kirschblüte, das weiß bei uns schließlich jedes Kind!).

Endlich: Der Flug nach Wien ist gebucht. Unsere betagten Freunde aus Nagasaki hängen sich ihre blitzenden und blinkenden Digitalkameras um die Hälse. Landung in Wien-Schwechat. Die Baustelle in Wien-Mitte vermittelt erste, unvergessliche Eindrücke einer erhabenen Kulturstadt. Unsere Freunde aus Nippon sind sich sicher: Gleich biegt, hysterisch kichernd, Wolfgang Amadé um die Ecke. Der Finger zuckt nervös über dem Auslöser. Es ist aber bloß die (zugegeben: anmutige) Silhouette der nebenstehenden Kollegin Baumann. Klick! Es ist zu spät.

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Kontra---
Von Birgit Baumann

Klar, früher blieb man höflich stehen. Als Touristen noch Filme einlegten und Papierbilder produzierten - ganz früher noch die teuren schwarz-weißen -, da wäre es wirklich frevelhaft gewesen, rücksichtslos durchs Bild zu latschen. Aber die Zeiten haben sich geändert und die Touristen auch. Sie stehen nicht mehr ehrfurchtsvoll vor dem Stephansdom, um dann einen kostbare Moment mit einem gezielten Klick auf Papier zu bannen. Vielmehr macht heute ein jeder aus der Gruppe mit dem Smartphone gefühlte 20.000 Spaßfotos.

Einbeinig vor Schönbrunn, Zunge rausstrecken vor dem Goldenen Dachl. Ganze Gruppe vor der Kaiservilla, halbe Gruppe vor dem Uhrturm und dann noch einmal jeder einzeln. Weil: Es kost' ja nix mehr. Kaum fotografiert, wird die unpassende Ausbeute auch schon wieder gelöscht. Dafür muss man nicht extra stehen bleiben und warten - zumal es ja die Besucher sind, die viel Zeit haben. Also sollen auch sie auf den passenden Moment fürs Foto warten und nicht die, die gar nicht drauf sein wollen. (Rondo, DER STANDARD, 06.04.2012)