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Auch live in Wien wird Richards (re.) zwischen zwei Songs jenen Satz sagen, den er an jedem Abend zwischen zwei Songs sagt: "Hallo, es ist gut, heute hier zu sein - andererseits, es ist gut, überhaupt irgendwo zu sein!"

Foto: APA/EPA/dpa/Frank Leonhardt
Die Rolling Stones sind ab heute drei Tage lang in Wien. Wo früher Mütter ihre Hausapotheken wegsperren mussten, stehen neben 60.000 Fans am Mittwoch im Ernst-Happel-Stadion auch Finanzberater Gewehr bei Fuß. Steine setzen Moos an. Moos wie in: Geld!


Wien - Als der britische Musikjournalist Nick Kent Anfang der 70er-Jahre im New Musical Express über eine Tournee der Rolling Stones mehrere Wochen lang als teilnehmender Beobachter berichtete, hatte das für das Genre schwerwiegende und bis heute anhaltende Folgen. Dokumentiert wird das in seinem Reportagenband "The Dark Stuff". Im Nachhinein kann man das nur mit jenem Fehler vergleichen, den die US-Army ungefähr zeitgleich in Vietnam im Zusammenhang mit mitgeführten Kriegsberichterstattern machte. Die ließ man anfangs auch unzensuriert berichten.

Die Weltöffentlichkeit jaulte zwar wohlig-entsetzt über die geschilderten Ausschweifungen auf. Im Pentagon wie im Management der Stones fühlte man sich allerdings wegen des entstehenden Imageschadens zunehmend unwohl. Man machte die Schotten für alle Zukunft dicht. Woher die Stones kommen, ist klar. Wohin sie gehen, auch. Was dazwischen ist, geht nur die Polizei etwas an.

Hier also der nicht zuletzt wegen der Presse aufkommende Antiamerikanismus. Da ein zutiefst einsetzender Widerwille gegenüber schmalbrüstigen Middleclass-Buben aus London, die sich wegen der Abspielung der ewig gleichen Akkorde ebenfalls als Herren der Welt aufführten.

Als die Kriegsveteranen aus Vietnam nach Hause zurückkehrten, wurden sie ausgebuht. Als die Stones wieder von ihren Tourneen in jeder Hinsicht herunterkommen wollten - Drogen waren in beiden Fällen im Spiel -, wurden sie zu Hause bespuckt und verhöhnt. Dekadente Möchtegern-Bohemiens, schlaffe Drogensäcke. Feuer am Dach, aber keines unter dem Arsch. Acht Monate Studiozeit in Villen auf Jamaika, den Bahamas oder in Südfrankreich: Heraus kommt nur, dass die letzte hörbare Platte aus dem Jahr 1969 stammt: Let It Bleed. Ohne Blut aber kein Herzblut: Punk als Konterrevolution war die Folge.

Mitte der 70er-Jahre fiel nicht nur Saigon. Damals endete parallel mit den an Schilderungen von Marquis de Sade erinnernden Konzertreisen von so genannten "Dinosauriern" wie eben den Stones jene Zeit im Sündenfall, die man heute als die "klassische Ära" des Rock bezeichnet.

Eine Fernsehdokumentation zeigte damals, dass man Keith Richards jeden Tag einen Zettel auf den Badezimmerspiegel heften musste, auf dem der jeweilige Name der Stadt stand, in der er sich gerade befand. Heute ist Richards zum Cartoon-Bild der einstigen Ausschweifungen verkommen. Weil ihm das - oft auch zusätzlich zur Musik - sehr egal ist, genießt er es kunsttorkelnd auch seit Jahren ziemlich sehr.

Auch live in Wien wird Richards zwischen zwei Songs jenen Satz sagen, den er an jedem Abend zwischen zwei Songs sagt: "Hallo, es ist gut, heute hier zu sein - andererseits, es ist gut, überhaupt irgendwo zu sein!"

Wer überlebt, hat Recht. Die Rolling Stones haben sehr viel Recht. Weil sie noch immer auf der Welt sind, dürfen auch wir trotz Sorge um die Rente ein wenig unbesorgter in die Zukunft blicken. Systemerhalter sind die oben auf der Bühne wie wir unten auf dem Rasen. Allerdings können die Stones schon rein steuerlich mehr abschreiben als ihre eigene Glaubwürdigkeit. Geschätzte einhundert Millionen US-Dollar wird die laufende Tournee am Ende einbringen.

Charlie Watts war schon vor einigen Wochen ohne größeres Aufsehen privat in Österreich. Im oberösterreichischen Wels, wo er wie beinahe jedes Jahr Ausschau nach neuen Zuchtpferden für das eigene Gestüt hält. Man muss sich das einmal vorstellen: Der Schlagzeuger der verkommensten Band der Welt züchtet Pferde! Ihm selbst scheint das schon lange peinlich zu sein. Er agiert gemeinsam mit jener Band, der er seit 40 Jahren angehört, als ob er nicht wirklich dazu gehören würde.

Eins, zwei, drei, vier

Ron Wood wird heute, Dienstag, in der Wiener Galerie Ariadne vielleicht sogar persönlich eine Ausstellung mit eigenen Werken eröffnen - Ölgemälde, auf denen er meist Musikerkollegen porträtiert. Außer er zählt zu jenen 16 Leuten aus dem 70-köpfigen Tour-Tross der Stones, für die Keith Richards neben Karten für das Konzert von Iggy Pop im Wiener Gasometer die gewohnte Dosis russische Vitamine geordert hat. Mick Jagger hat außer einem Abendessen mit seinem Finanzberater, dem österreichstämmigen Prinz Rupert von Loewenstein, vor allem eines vor: eine Zwischenbilanz. Im Hotel Imperial sollen schwarze Zahlen begutachtet werden: "It's only rock 'n' roll, but I like it!"

Vom wilden Hund zum alten Deppen ist es nur ein schmaler Grat. Er ist deshalb so schwer zu beschreiten, weil die Stones selbst immer noch mitten in der Erstdurchquerung sind. Vielleicht schaffen sie es am Mittwoch aber doch wieder, noch einmal, für immer, mit einem liebevoll-verhunzten Eingangsriff aus Jumpin' Jack Flash dem Gelächter zu entkommen. Der Tagesbefehl ist einfach wie seit 40 Jahren: Eins, zwei, drei, vier! (DER STANDARD, Printausgabe, 17.6.2003)