Die ursprünglich für 9.000 Studenten angelegte Wirtschaftsuni Wien platzt derzeit aus allen Nähten, denn mehr als 25.000 Studenten frequentieren regelmäßig das alte Gebäude über den Geleisen des Franz-Josefs-Bahnhofs. Aber nicht nur das Platzproblem, auch der teilweise desolate Zustand des gerade einmal 30 Jahre alten Hauses sorgt dafür, dass sich die Lage weiter zuspitzt. Eine Lösung musste her, und die wurde mit einem Neubau auf den ehemaligen Gründen der Messe Wien im Prater gefunden.

Foto: Michael Hierner/www.hierner.info

Das Herzstück dieses neuen WU-Campus bildet das LLC ("Library & Learning Center"), ein Multifunktions-Gebäude, das als Treffpunkt, Bibliothek, Büro, Haupt-Aula und Lernzentrum fungieren soll. Beim Wettbewerb hat sich die irakische Architektin Zaha Hadid gegen Architekturgrößen wie Massimiliano Fuksas und den Österreicher Hans Hollein durchsetzen können. Nun ist die ungewöhnliche Form des Gebäudes schon gut sichtbar - ein Grund mehr, einen Blick auf Wiens wortwörtlich "schrägste Baustelle" zu werfen.

Rendering © BUSarchitektur_boanet.at

Nähert man sich dem Gebäude von vorne, fallen einem vor allem die vielen Stahlstützen des Gerüstes auf. Sie werden im Bauzustand den überhängenden Raum tragen, in dem ab Oktober 2013 die ersten Studenten lernen sollen.

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Wie schräg dieses Gebäude aber wirklich ist, sieht man von der Seite: Es scheint, als ließe die Schwerkraft das Gebäude nach vorne kippen, wodurch es sich nun bedrohlich in Richtung Prater neigt. Dies ist aber ein bewusster Bruch mit den üblichen geltenden Regeln der Architektur, über die sich Zaha Hadid hier selbstbewusst hinwegsetzt. Ähnlich agierte sie bereits beim "Boarding House" an der Spittelauer Lände, was ihr neben Lob auch viel Kritik einbrachte.

Foto: Michael Hierner/www.hierner.info - Rendering © Zaha Hadid Architects

Und so zieht sich der Winkel bis tief ins Gebäude hinein: Nicht nur Wände, sondern auch Stützen und Pfeiler unterwerfen sich dem schrägen Diktat der Architektin - eine Herausforderung für Statiker und die ausführende Baufirma, die hier täglich vor neuen Aufgaben steht.

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Auf die Spitze wird diese Ästhetik dann im Inneren des Gebäudes getrieben. Die Aula könnte eigentlich auch von einem anderen Planeten stammen oder zumindest aus einer Zeit, die mehrere Jahrzehnte in der Zukunft liegt.

Foto: Michael Hierner/www.hierner.info - Rendering © Zaha Hadid Architects

Der Raum wird dabei nicht nur von schrägen Wänden, sondern auch von abgerundeten Kanten definiert. Der Baukörper schlingt und windet sich im Raum. Fast hat man das Gefühl, das hier verbaute Material sei Gummi und nicht harter Stahlbeton.

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Um trotzdem derartige, statisch fast unmögliche Formen zu bauen, wird teilweise tief in die Trickkiste gegriffen. So sind scheinbar tonnenschwere Pfeiler aus dünnem Beton geformt und schwer wirkende, weit überhängende Betonplatten haben in ihrem Inneren leichte "Salatschüsseln" einbetoniert, die wertvolles Gewicht durch eingeschlossene Luft einsparen.

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Dieser Trick ist vor allem beim weit überhängenden Lernsaal notwendig. Er wird nicht nur teilweise den Vorplatz überdachen, sondern von weitem auch als Signal und wichtigstes Erkennungsmerkmal für das Gebäude dienen.

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Das LLC soll übrigens täglich 24 Stunden geöffnet sein und neben einem Library Café auch eine Buchhandlung beherbergen. Gerade vom auskragenden Dach des Gebäudes aus wird ein einmaliger Ausblick auf den Prater und den Campus der neuen Wirtschaftsuniversität möglich sein.

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Dass der Architektin aber auch Details wichtig waren, zeigt dieses Beispiel. Neben natürlichem Sonnenlicht, das durch die Dachfenster bis ins unterste Geschoß dringt, sind auch die Sockel zwischen Boden und Wand abgerundet. Dadurch ergibt sich eine fast schon ägyptisch-antik wirkende Ästhetik.

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Von jedem Stockwerk aus ist ein Blick in die Aula möglich. Großzügige freie Ebenen ermöglichen es, entweder Lerngruppen zu bilden oder sich einfach nur mit einem Buch in eine Ecke oder an einen Tisch zurückzuziehen. Insgesamt hat das fünfstöckige Gebäude übrigens eine Fläche von 42.000 Quadratmetern.

Foto: Michael Hierner/www.hierner.info

Noch ist der "Deckel" des 76 Meter breiten und 136 Meter langen Gebäudes nicht geschlossen, aber schon bald soll das Dach in 30 Metern Höhe betoniert werden. Dann kann auch mit dem Innenausbau begonnen werden. Bis dahin zeigt der überall heraushängende Armierungsstahl jedoch eindrucksvoll, wie viel Aufwand betrieben wird, um der wirkenden Schwerkraft zu trotzen und alles in eine bewusste "Schieflage" zu bringen.

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Wer hätte je gedacht, dass auf dem Grundstück, auf dem zur Weltausstellung 1873 die mächtige Rotunde stand, einmal derart "schräge Architektur" gebaut würde? Auch wenn das Gebäude auf den ersten Blick untypisch für Wien ist, ist es neben dem demnächst 230 Meter hohen "DC Tower 1" und dem Hauptbahnhof Wien doch eines der prägendsten Gebäude der 2010er Jahre. (Michael Hierner, derStandard.at, 1.3.2012)

Bild: Wikipedia, Stadtchronik Wien, Verlag Christian Brandstätter - Rendering © Zaha Hadid Architects