Vor fast 40 Jahren, knapp nach dem Zusammenbruch der Militärdiktatur in Griechenland, hat der griechische Schriftsteller Nikos Dimou einen Aphorismenband veröffentlicht, der jetzt erst ins Deutsche übersetzt wurde: Über das Unglück, ein Grieche zu sein. Wer Griechenland kennt (und liebt), wird bestätigen können, dass Dimou eine Wurzel der heutigen griechischen Misere bloßlegt - die Realitätsverweigerung als Nationalsport: "Axiom: Ein Grieche tut alles, was er kann, um die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu vergrößern." "Ein Grieche nimmt die Realität prinzipiell nicht zur Kenntnis. Er lebt zweifach über seine Verhältnisse. Er verspricht das Dreifache von dem, was er halten kann. Er weiß viermal so viel wie das, was er tatsächlich gelernt hat. Er zeigt seine Gefühle fünfmal stärker, als er sie wirklich empfindet." "Andere Völker haben Institutionen. Wir haben Luftspiegelungen." Dimou ist ein klassischer liberal-konservativer Intellektueller, den die " Anomie", die Gesetzlosigkeit, seiner Landsleute nervt: die Weigerung, Regeln anzuerkennen, sei es im Verkehr oder beim Steuerzahlen. Aber niemand verharrt auf ewig in seinen Irrtümern. Eine unerträgliche Situation führt zu Veränderungen, hoffentlich den richtigen. Die wichtigste Aufgabe für die Griechen wäre jetzt, ihre vollkommen verantwortungslose politische Klasse loszuwerden. (DER STANDARD Printausgabe, 28.2.2012)