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Fahne von Aserbaidschan.

Foto: AP/dapd

Doppelte Botschaft: "Bleibt nicht stumm gegenüber den armenischen Lügen". Der Aufruf auf Strassenplakaten in Istanbul bezieht sich auf eine Grossdemonstration zum Gedenken an das Massaker der armenischen Armee an den Bewohnern von Khojali in Karabach vor 20 Jahren. Der Subtext bezieht sich auf die internationale Kampagne Armeniens zur Anerkennung des Völkermords von 1915.

 

Foto: Markus Bernath

"Bleibt nicht stumm gegenüber den armenischen Lügen!", schreit es seit Tagen von großen schwarzen Plakaten in Istanbuls Innenstadt. Gemeint ist das Massaker an der aserbaidschanischen Zivilbevölkerung des kleinen Städtchens Khojali an diesem Wochenende vor 20 Jahren. Aber wie Emin Babayev am Telefon erklärt: Bei den "Lügen" der Armenier gehe es auch um den angeblichen Völkermord von 1915, das neue Gesetz des französischen Parlaments, den Mord gegen den türkisch-armenischen Verleger Hrant Dink. Der hat auch nicht stattgefunden? "Schon", sagt Babayev, "aber wir wollen, dass der Westen auch den Völkermord in Khojali anerkennt". Babayev ist ein aserbaidschanischer Mitorganisator der heutigen Khojali-Gedenkdemonstration am Taksim-Platz in Istanbul, der Journalisten für das Ereignis zusammentrommelt.

Die "Lügen"-Plakate in Istanbul sind ein Denkzettel für die armenische Minderheit in der Stadt, die nicht vergessen soll, dass sie stets mit Argwohn betrachtet wird und besser den Mund hält. Das Massaker in Khojali war ein Verbrechen gegen alle Turkstämmigen, hat Devlet Bahceli, der Führer der rechtsgerichteten, parlamentarischen Oppositionspartei MHP, erklärt. Türkische Regierungspolitiker vermeiden dagegen Zwischentöne gegen die Armenier im eigenen Land; es würde ihrer Politik der Öffnung gegenüber den Minderheiten zuwiderlaufen. Dass die größte Gedenkveranstaltung im Ausland in Istanbul stattfindet, ist jedoch kein Zufall: Khojali ist die Revanche gegen das Genozid-Gesetz der Franzosen. Noch steht das Ausmaß des politischen und wirtschaftlichen Bruchs der türkischen Regierung mit Frankreich nicht fest; das französische Verfassungsgericht entscheidet erst über die Zulässigkeit des Gesetzes.

Khojali ist eines der blutigen Kapitel im türkisch-armenisch-aserbaidschanischen Dreieck des Leugnens und Verdrehens, das Kernstück der Hasspropaganda gegen die Armenier und der große blinde Fleck im Karabach-Krieg der Armenier und ihres damaligen Militärchefs Serge Sarksyan, der heute Staatspräsident ist. Thomas de Waal, der mit seinem Buch "Black Garden. Armenia and Azerbaijan through Peace and War" (2004) eine der bisher besten Darstellungen des neueren Karabach-Konflikts vorlegte, lockte aus Sarksyan ein entscheidendes, viel zitiertes Bekenntnis heraus:

Before Khojali, the Azerbaijanis thought that they were joking with us, they thought that the Armenians were people who could not raise their hand against the civilian population. We were able to break that (stereotype). And that's what happened."

Im Winter 1992, als armenische Truppen im ehemals Autonomen Oblast Berg-Karabach vorrückten, einer seinerzeit zu zwei Drittel von Armeniern bewohnten Enklave in der früheren Sowjetrepublik Aserbaidschan, war auch die Kleinstadt Khojali, zehn Kilometer nordöstlich von der Provinzhauptstadt Stepanakert, eingekreist. Als relativ sicher gilt, dass das armenische Militär die zur Zeit des Kriegsausbruches etwa 6000 mehrheitlich aserbaidschanischen Einwohner zum Verlassen ihrer Stadt aufgefordert hatte. Khojali war schon seit Wochen von der Außenwelt abgeschnitten. Als der Angriff am 25. Februar 1992 begann, blieben einem Bericht der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial zufolge 200 bis 300 Einwohner in Khojali und versuchten sich zu verbergen. Der Großteil flüchtete am Abend über die verschneiten Bergstraßen in zwei Richtungen nach Agdam, der nächsten größeren Stadt außerhalb von Berg-Karabach auf aserbaidschanischem Gebiet: nach Nordosten durch den offiziellen "freien Korridor", den die armenische Seite über Funk und Lautsprecher bekannt gegeben haben will; nach Norden über einen zweiten Weg Richtung Agdam. Khojali wurde zerstört, wohl auch unter Mithilfe eines russischen Regiments.

Vor allem der "freie Korridor" erwies sich aber als tödliche Falle für die Bewohner von Khojali: Armenische Soldaten nahmen die Flüchtlingskolonne unter Beschuss. Eriwan und Karabach-Armenier gaben später an, aserbaidschanische Soldaten, die sich unter die Flüchtlinge gemischt hätten, feuerten auf die Armenier; die Flüchtlinge seien zwischen die Fronten gekommen, hieß es auch, weil sich aserbaidschanische Einheiten von Agdam aus nach Khojali vorgekämpft hätten. Es entschuldigt schwerlich den Beschuss der Zivilisten, es erklärt auch nicht die Verstümmelungen, die an den Opfern begangen wurden. Die armenische Seite spricht bis heute von 160, die aserbaidschanische von 600 bis 800 Toten, darunter vielen Frauen und Kindern.

Die New York Times berichtete am 3. März 1992 über das Massaker im Kriegsgebiet:

"The Azerbaijani militia chief in Agdam, Rashid Mamedov, said: "The bodies are lying there like flocks of sheep. Even the fascists did nothing like this." Near Agdam on the outskirts of Nagorno-Karabakh, a Reuters photographer, Frederique Lengaigne, said she had seen two trucks filled with Azerbaijani bodies. "In the first one I counted 35, and it looked as though there were almost as many in the second," she said. "Some had their heads cut off, and many had been burned. They were all men, and a few had been wearing khaki uniforms."

Lengaigne, die französische Fotoreporterin, hat ihre Bilder aus dem Massakergebiet mittlerweile zu einer Dokumentation zusammengestellt, die international gezeigt wird. Die aserbaidschanische Führung ließ 1994 ihren damaligen Militärkommandeur Fahmin Hajiev zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilen, weil er Khojali aufgegeben habe. Dem aserbaidschanischen Journalisten Eynulla Fatullayev wurde 2007 wegen eines Berichts über die Verantwortung aserbaidschanischer Soldaten beim Massaker in Khojali der Prozess gemacht. Hajivev wurde 2004 begnadigt, Fatullayev kam 2011 nach einer internationalen Kampagne aus dem Gefängnis.

UPDATE 28.02.: Wegen rassistischer Slogans bei der Khojali-Kundgebung auf dem Taksim-Platz am Sonntag, 26.02., soll die Staatsanwaltschaft ermitteln. Das verlangten Mitglieder der Menschenrechtskommission im türkischen Parlament. Auf Plakaten stand u.a. als Drohung zu lesen: "Heute Taksim, morgen Eriwan".  Und in einer Abwandlung der Solidaritätsbekundungen nach dem Mord an Dink ("Wir sind alle Armenier"): "Ihr seid alle Armenier. Ihr seid alle Bastarde". Das französische Verfassungsgericht kippte das Genozid-Gesetz, es verstoße gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung, hieß es in der Begründung. Das türkische Außenministerium äußerte sich zufrieden.