Kolmann, Call und Kurz (von links) sind sich einig: Wer sich mehr Gerechtigkeit wünscht, muss auch selbst etwas dafür tun.

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DER STANDARD-Schwerpunktausgabe Gerechtigkeit.

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Standard: Was bedeutet Gerechtigkeit für Sie persönlich?

Call: Gerechtigkeit bedeutet für mich, sich allen Menschen gegenüber gleich zu verhalten, unabhängig davon, wie alt diese sind und woher sie kommen. Gerechtigkeit sollte in unserem Leben eine große Rolle spielen, da wir alle auf sie angewiesen sind.

Kurz: Wenn ich Ungerechtigkeit bei meinen Mitmenschen erlebe, stört mich das sehr. Dann sage ich meine Meinung und versuche, wenn möglich, zu helfen.

Kolmann: Gerechtigkeit ist für mich, wenn sich jeder frei entfalten kann. Das gilt sowohl für die Schule als auch fürs Leben. Konkret ist für mich Wählen ab 16 gerecht. Uns wird dadurch eine Stimme gegeben. Hätte jeder Schüler Politische Bildung als Schulfach, wäre es umso besser.

Standard: Was empfinden Sie oft als ungerecht in Ihrem Leben?

Call: Mir fällt gleich die Benotung in der Schule ein.

Kolmann: Ich habe auch an Notengebung gedacht. Nicht nur Noten und Benotung sind in der Schule ungerecht, auch der Umgang der Lehrer mit Schülern. Es ist oft von Anfang an kein gleichwertiges Verhältnis da. Das empfinden viele Schüler als ungerecht.

Kurz: An der Uni ist das Verhältnis noch extremer. Studenten kommen oft gar nicht persönlich an Professoren heran. Das ganze Ausbildungsverhältnis ist so aufgebaut, dass man abhängig ist von den Sachen, die oben passieren. Oft wird schon die Grundsituation als nicht gerecht empfunden.

Standard: Warum ist die schulische Benotung ungerecht?

Call: Gerechte Benotung kommt auf den Lehrer an.

Kolmann: Jeder Lehrer ist auch ein Mensch (lacht). Deswegen fließen auch andere Faktoren mit in die Benotung ein. Man kann das Zwischenmenschliche nicht ganz ausblenden.

Kurz: Noten sind notwendig, gerade in Bereichen wie der Uni, weil dort das Betreuungsverhältnis sehr unausgeglichen ist. Aber in der Schule, wo es persönliche Verhältnisse gibt, könnte man die Benotung sicherlich besser erklären und begründen. An der Uni, wo das nicht möglich ist, sollte man zumindest objektive Kriterien haben, sodass man ganz klar weiß, wie sich eine Note zusammensetzt.

Standard: Reichen fünf Zahlen aus, um Aufschluss über die Leistung eines Schülers oder Studenten zu geben?

Kolmann: Es ist einfach schwer, eine Leistung oder ein ganzes Schulsemester aufgrund von Zahlen zu fassen. Es kommt Schülern auch deswegen oft ungerecht vor, weil man mit Zahlen wenig anfangen kann. Ein Einser heißt, dass ich gut bin, dennoch weiß ich nicht, worin ich mich noch verbessern könnte.

Call: Fünf Noten sind nicht genug, sie bieten nicht genug Platz, um zu beschreiben, wie gut die Schüler wirklich sind. Es gibt viel mehr als nur fünf Leistungsgruppen in der Klasse. Das heißt, viele haben die gleichen Noten, obwohl sie ganz unterschiedliche Leistungen haben.

Standard: Conny Kolmann, was ist Ihnen als Bundesschulsprecherin ein Anliegen für mehr Gerechtigkeit auf der Schülerseite?

Kolmann: Besonders wichtig ist es mir, dass die Schüler von der Politik ernst genommen werden. Teilweise habe ich den Eindruck, dass Dinge, die wir sagen, belächelt werden. Es wäre gerecht, würden unsere Vorschläge in die Arbeit einbezogen werden.

Standard: In einer vom Institut für Jugendforschung herausgegebenen Studie, in der 16- bis 19-Jährige in Wien befragt wurden, gaben 36 Prozent an, dass der wichtigste Grund für Armut Faulheit und Mangel an Willenskraft sei. Stimmen Sie hier zu?

Call: Ich kann mir nicht vorstellen zuzustimmen. Wir haben in Bezug zu dieser Studie ein Sozialprojekt in der Schule durchgeführt, bei dem wir eine Woche lang in der Einrichtung VinziBett (Notschlafstelle für Obdachlose, Anm.) gekocht haben. Im Gespräch haben wir erfahren, dass viele Menschen durch ungerechte Schicksalsschläge auf die Straße kommen.

Kolmann: Vorurteile wie diese müssen in der Schule durch Wissensvermittlung und Diskussion beseitigt werden.

Kurz: Um den Sinn von Gerechtigkeit zu lernen, sind soziale Projekte notwendig. Ich finde, ein soziales Jahr wäre sehr sinnvoll dafür.

Standard: Wie erklären Sie sich, dass ein Gutteil der Jugend so eine Einstellung zur sozialen Gerechtigkeit hat?

Kurz: Am Juridicum sind solche Ansichten sehr vorherrschend, weil das eine Domäne ist, in der sich erfolgs- und karriereorientierte Menschen bewegen. Als junge Jusstudentin muss man sich sehr engagieren, um selbst nicht total neoliberal geprägt zu werden.

Kolmann: Es hängt damit zusammen, dass die Leistung von Menschen in Zahlen gemessen wird. Leistung wird an Erfolg und Geld gebunden, und das wird dir von frühster Kindheit an vermittelt.

Call: Es ist schwer, Menschen zu überzeugen und umzustimmen, die so eine Meinung haben. Nicht allen ist klar, dass Eltern, die Bauarbeiter sind, ihrem Kind nicht die gleiche Bildung ermöglichen können, wie Eltern, die Vielverdiener sind.

Standard: Was können Sie selbst für mehr Gerechtigkeit tun?

Kolmann: Man muss für seine eigene Meinung einstehen und den anderen mit Toleranz begegnen.

Call: Wenn dich etwas stört, musst du versuchen, es zu ändern, anstatt immer nur unzufrieden zu sein. Für ein gerechteres Zusammenleben ist es sehr wichtig, respektvoll miteinander umzugehen.

Kurz: Das alles betrifft den zwischenmenschlichen Umgang, wenn es aber Sachen sind, die das System betreffen, habe ich persönlich das Gefühl, dass man als Einzelner nicht viel tun kann. In einem System ist es oft viel schwieriger, Ungerechtigkeiten zu verhindern, weil ein System nie perfekt ist. Man sollte aber ständig korrigieren. Viel ist schon geschafft, wenn jeder seine Handlungen möglichst gerecht setzt.

Standard: Unterscheidet sich Ungerechtigkeit bei älteren und jüngeren Menschen? Woran erkennen Sie "die Ungerechtigkeit der Jungen"?

Call: Das merkt man an kleinen Dingen. Wenn du als Jugendlicher in ein Geschäft gehst, wirst du nicht gleich behandelt wie ein Erwachsener. Man begegnet dir nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit und Freundlichkeit. Der Unterschied liegt in der Behandlung.

Kolmann: Ich habe den Eindruck, dass Jung und Alt aneinander vorbeileben und nicht aufeinander eingehen, deswegen entsteht die unterschiedliche Behandlung. Ungerechtigkeit ist für mich, dass man nicht miteinander lebt, sondern nebeneinander.

Kurz: Ungerecht ist, dass von Erwachsenen den Jungen oft nicht die Chance gegeben wird, selbst etwas in die Hand zu nehmen. Man wird einfach bevormundet.

Kolmann: Die Verantwortung liegt bei den Eltern, die Kinder frei sein zu lassen. (Kristina Nedeljkovic, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25.2.2012)