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Die seelische Gesundheit ist bei Frauen mit Migrationsgeschichte durch Mehrfachbelastungen stärker gefährdet: Sie sind doppelter rechtlicher und sozialer Diskriminierung ausgesetzt - als Frauen und als Zugewanderte.

In Österreich sind Menschen mit Migrationshintergrund eine Bevölkerungsgruppe mit großen Gesundheitsrisiken. Migranten rauchen öfter, sind häufiger übergewichtig, haben ein höheres Herzinfarkt- und Diabetesrisiko und erkranken wahrscheinlicher an Bluthochdruck. Sie nehmen seltener Dienste der Allgemeinärzte und Spezialisten in Anspruch, besuchen dafür häufiger Ambulanzen und Krankenhäuser und gehen seltener zu Vorsorgeuntersuchungen.

Studien zur seelischen Gesundheit in Österreich deuten darauf hin, dass Menschen mit Migrationsgeschichte auch häufiger unter psychischen Störungen leiden. So werden bei Migranten laut ersten Untersuchungen der Transkulturellen Ambulanz der Universitätsklinik Wien öfter Angststörungen, Zwangsstörungen und psychosomatische Störungen festgestellt. Die medizinische Versorgung gestaltet sich problematisch: Sprachbarrieren, mangelnde Information und teilweise auch kulturelle Unterschiede führen zu niedrigen Inanspruchnahmeraten gesundheitlicher Einrichtungen aller Art und wenig erfolgreichen Behandlungen.

Hinzu kommt, dass das Angebot muttersprachlicher Psychotherapie abseits eigens eingerichteter Beratungszentren stark begrenzt ist. So gibt es in ganz Österreich nur etwa 25 Psychotherapeuten, die Behandlungen auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch anbieten, muttersprachlich türkische Psychotherapeuten gibt es gar nur 17 - und das unter mehreren tausend Therapeuten in Österreich.

Was macht krank?

Migration ist ein Lebensereignis, das großen psychischen Stress auslöst und zu tiefgründigen Veränderungen in Selbst- und Weltbild führen kann. Weiters ist ein Zusammenhang zwischen einem niedrigen sozio-ökonomischen Status, den Migranten und Migrantinnen statistisch gesehen häufiger haben, und physischen sowie psychischen Erkrankungen festgestellt worden. Zudem leiden diese oft an Beschwerden, die mit traumatisierenden Ereignissen aus der Vergangenheit zusammenhängen. Migration macht also nicht per se (psychisch) krank, ist aber ein zusätzlicher belastender Faktor.

Mehrfachbelastung bei Frauen

Die seelische Gesundheit ist bei Frauen mit Migrationsgeschichte durch Mehrfachbelastungen stärker gefährdet: Sie sind doppelter rechtlicher und sozialer Diskriminierung ausgesetzt - als Frauen und als Zugewanderte. Dadurch sind Migrantinnen benachteiligt in der Berufswelt und öfter auf unattraktive und unsichere Arbeitsplätze angewiesen. Nicht zuletzt tragen Stress, eine statistisch niedrigere Beschäftigungsrate und dadurch weniger soziale Teilhabe sowie eine Festlegung auf traditionelle Frauenrollen mit der Verpflichtung zur Selbstaufgabe zur schlechteren seelischen Gesundheit bei.

Migrantinnen haben deshalb ein fast dreifach erhöhtes Risiko, an Depressionen oder Angstzuständen zu leiden. Auch Persönlichkeitsstörungen, Schlafstörungen und sexuelle Störungen werden bei Migrantinnen öfter diagnostiziert. Generell schätzen Migrantinnen ihr psychisches Wohlbefinden sehr schlecht ein, wobei türkische Frauen die schlechteste Selbsteinschätzung abliefern.

Psychosomatik der Migration

Seelische Belastung kann sich nicht nur in psychischen Erkrankungen äußern, sondern auch in physischen Beschwerden oder einer Kombination von beidem. Auch Wechselwirkungen zwischen Körper und Psyche sind möglich. Ein Beispiel hierfür wären regelmäßige Angstzustände, die zu übermäßigem Adrenalinausstoß führen, der wiederum Magen- und Verdauungsbeschwerden hervorruft. Körperliche Schmerzen können sich bei psychischer Belastung auch chronifizieren und einen Teufelskreis in Gang setzen.

Eine Sonderform der psychosomatischen Störungen, die im Zusammenhang mit Migranten eine Rolle spielt, ist die somatoforme Störung. Darunter versteht man körperliche Schmerzen, zu denen keine hinreichende physische Ursache gefunden werden kann. Sie können etwa im Kopf- und Nackenbereich, im Rücken bzw. Kreuz, in den Gliedmaßen oder im Unterleib auftreten.

Häufig wird der seelische Grund für solche Schmerzen erst spät geklärt. Die Patienten werden zunächst etwa von Allgemeinärzten oder im Krankenhaus mit Schmerzmedikation eingedeckt. Oft helfen die Schmerzstiller bei chronischen Schmerzen und somatoformen Störungen jedoch nicht. Das kann erstens zu höheren Dosierungen und weiteren Schmerzmitteln führen und zweitens zu langwierigen und manchmal auch teuren Untersuchungen. Wenn dann noch immer kein organischer Schmerzensherd festgestellt werden kann, bleiben Patienten enttäuscht und Ärzte frustriert zurück.

Kultur und Krise

"Theorien, die das Problem kulturell erklären möchten, gehen darauf ein, dass in verschiedenen Kulturen Schmerzen anders dargebracht, thematisiert und artikuliert werden. Etwa sagt man türkischen Patienten oder jenen aus Ex-Jugoslawien nach, psychische Probleme würden tabuisiert und Schmerzen diffuser und theatralischer dargebracht", sagt Ekim San, klinische und Gesundheitspsychologin am Frauen-Gesundheitszentrum FEM Süd im Wiener Kaiser-Franz-Josef-Spital. Sie meint, dass der Umgang mit Schmerzen zwar in verschiedenen Kulturen unterschiedlich sein kann, unter ihren Patienten aber keine Vorurteile gegenüber dem Begriff Psychiatrie herrschen.

In den Erstaufnahmen von Krankenhäusern sieht man das jedoch etwas anders. Die Patienten würden auf Überweisungen an die Psychiatrie oder Ratschlägen, mit Psychologen ihr Problem zu besprechen, oft etwas unwillig reagieren. Sie hätten doch einfach nur Schmerzen und seien nicht verrückt. "Unsere Patienten beginnen langsam, den Zusammenhang zwischen ihren seelischen und körperlichen Problemen zu sehen. Aber wir stehen manchmal erst ganz am Ende der Behandlungen, nach ausgiebigem Ärzte-Hopping und Stationenroulette", sagt Ekim San.

Mehrsprachiges Personal fehlt

Das Gesundheitszentrum FEM Süd, das auch Beratungen auf Türkisch, B/K/S, Englisch, Französisch und Arabisch anbietet, erfreut sich großen Zuspruchs und wird gemeinsam mit dem MEN Männer-Gesundheitszentrum von Krankenhauspersonal, Allgemeinärzten und Spezialisten oft an migrantische Patienten mit psychischen Problemen oder Sorgen weiterempfohlen. Die Kapazitäten solcher Beratungseinrichtungen sind aber begrenzt, und meist kommen sie erst am Ende der Behandlungskette ins Spiel. "Der Einsatz mehrsprachigen und transkulturell geschulten Personals würde diesen Weg verkürzen, zu zeitgerechten und angemessenen Behandlungen führen - und im Endeffekt sogar Geld sparen", meint die Psychologin.

"Es macht bdschrr, bdschrr"

Große Schwierigkeiten ruft auch der Mangel an Fachkräften, die Patienten mit Migrationsgeschichte in ihrer Muttersprache begegnen könnten, hervor. Als Beispiel hierfür nennt Ekim San, die auch Beratungen auf Türkisch anbietet, eine Patientin mit starken und andauernden Kopfschmerzen, die ihr erklärte, in ihrem Kopf mache es "bdschrr, bdschrr". Ohne längeres Gespräch auf Türkisch, um mit der um Worte ringenden Frau zu klären, welche Art von Schmerzen sie damit zu beschreiben versucht, wäre eine passende Behandlung nicht möglich gewesen.

"Da ist sehr viel Fingerspitzengefühl nötig", meint die junge Psychologin. Sie warnt vor allzu engstirniger "Ethnisierung" der problemreichen Behandlungen im Zusammenhang mit psychosomatischen Störungen. Die Schwierigkeiten können nämlich auch mit dem Bildungsstatus der Patienten zusammenhängen, denn auch bei österreichischen Patienten mit ähnlichen sozio-ökonomischen Hintergründen zeigten sich mitunter dieselben Phänomene.

Dolmetscher selbst mitbringen

Das bestätigt Andrea Topitz, Leiterin der Transkulturellen Psychiatrie im AKH Wien. Im AKH werden die Patienten gebeten, selbst Dolmetscher zu den Sitzungen mitzunehmen. Es gibt zwar eine Liste fremdsprachigen Krankenhauspersonals, das man in der Not zurate ziehen kann, doch dieses ist nicht immer erreichbar und qualifiziert. Manchmal helfen auch Familienmitglieder wie der Ehepartner oder die Kinder aus.

Die Thematisierung psychischer Probleme allerdings fällt vor medizinischem Personal nicht immer leicht, geschweige denn bei Zwischenschaltung unbekannter Dolmetscher oder gar eigener Familienmitglieder, die möglicherweise in das Problem involviert sind. Andrea Topitz meint hierzu: "Dolmetscher aus der Familie, das habe ich überhaupt nicht gern. Wie kommen etwa Kinder dazu, sich die persönlichen Probleme der Eltern anhören zu müssen? In solchen Situationen passiert es auch öfter, dass nicht genau übersetzt und erklärt, sondern eher allgemein berichtet wird."

Medikamentenfundus aufräumen

Sie erzählt, was passiert, wenn psychosomatische beziehungsweise somatoforme Störungen zunächst oberflächlich auf der Schmerzebene behandelt werden: "Patienten kommen zu uns meist mit einer Fülle an Schmerzmedikation und ohne Psychopharmaka. Oft wissen sie gar nicht, was sie alles nehmen. Bei uns wird mit diesen Patienten zuerst im Medikamentenfundus aufgeräumt, und dann werden passende Vorschläge für medikamentöse Behandlungen gemacht. Und man muss an die Ursache für die Schmerzen herangehen, und das geschieht durch Psychotherapie."

Deutliche Unterschiede zeichnen sich zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration ab. Unfreiwillige Migranten, also Asylsuchende und Flüchtlinge, haben andere psychische Probleme und Bedürfnisse als etwa freiwillige Migranten wie Gastarbeiter. "Man könnte sagen, dass bei Patienten aus Ex-Jugoslawien und der Türkei in unserem Arbeitsbereich Fälle überwiegen, in denen es um somatoforme Störungen geht. Bei Asylsuchenden, die aus Gebieten wie Tschetschenien oder Georgien kommen, werden öfter Erkrankungen diagnostiziert, die mit Traumata zusammenhängen", erklärt Topitz.

Mängel im Gesundheitssystem

In einigen Punkten sind sich alle Fachkräfte, die sich mit Migration und (psychischer) Gesundheit beschäftigen, einig: Im österreichischen Gesundheitssystem gibt es große Mängel, die gerade bei der Behandlung von psychosomatischen Störungen am besten ins Licht rücken. Erstens sind Ärzte, Psychiater und Psychologen mit Muttersprachenkenntnissen dringend notwendig. Zweitens sollte die "Health Literacy" unter der Bevölkerung mit Migrationsgeschichte weiter durch Veranstaltungen und neue Beratungsstellen gesteigert werden, was zur Prophylaxe beitragen könnte. Und zuletzt würde eine repräsentative Studie zur psychischen Gesundheit von Migranten die vielen offenen Fragen klären und könnte Impulse zu neuen und treffsicheren Maßnahmen liefern. (Olja Alvir, daStandard.at, 24.2.2012)