Ex-FDPler Mehmet Daimagüler meint, die Integration Jugendlicher der Länder der ehemaligen DDR sei "in großen Teilen gescheitert".

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Opfer-Anwalt Mehmet Daimagüler sagt, nach den Attentaten der Zwickauer Zelle stelle die Politik die Frage, wie verbreitet Rassismus bei Sicherheitskräften sei, bisher nicht. Gudrun Springer fragte nach.

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Standard: Sie vertreten beim Verfahren gegen die Zwickauer Neonazis, die zehn Morde sowie zwei Bombenanschläge verübt haben sollen, die Familien zweier Opfer. Nach jüngsten Informationen könnte der Prozess noch 2012 beginnen. Ist das aus Ihrer Sicht realistisch?

Daimagüler: Ja, aber nicht vor dem Herbst. Es ist wichtig, dass der Prozess sauber vorbereitet wird, gerade weil es bei der Aufklärung eklatante Fehler gab. Momentan sind sechs Verdächtige in U-Haft. Ich könnte mir vorstellen, dass es noch mehr werden.

Standard: Wie steht es um die Aufarbeitung der politischen Fragen?

Daimagüler: Ich glaube, dass der Strafprozess auch in dieser Hinsicht Aufklärungsarbeit leisten kann. Dann haben wir aber auch noch einen Bundestags-Untersuchungsausschuss, eine Bund-Länder-Kommission und eine Kommission des Landes Thüringen. Bisher war von der politischen Führung zu hören: Wir wollen Aufklärung, und hier sind Fehler gemacht worden. Was ich bislang vermisse, ist die Frage, ob es so etwas wie institutionellen Rassismus innerhalb der Sicherheitskräfte in den neuen Ländern gibt.

Standard: Sie fürchten, die Frage danach wird ausgespart?

Daimagüler: Ich glaube, der Untersuchungsauftrag muss weiter gefasst werden. Aber so ein Untersuchungsausschuss entwickelt eine eigene Dynamik, und der Vorsitzende Sebastian Edathy von den Sozialdemokraten ist ein Mann, der die richtigen Fragen stellen wird. Wir als Opfervertreter werden entsprechend Druck machen.

Standard: Die Morde der Zwickauer Zelle wurden oft als "Döner-Morde" bezeichnet, was Unwort des Jahres 2011 wurde, nachdem Sie es der Jury vorgeschlagen hatten. Was veranlasste Sie dazu?

Daimagüler: Es wurden nicht Döner ermordet, man hat Menschen ins Gesicht geschossen. "Döner" suggeriert auch: Das ist etwas Türkisches, die gehören nicht zu uns.

Standard: Haben die Taten und die Ermittlungsfehler eine Debatte über die neuen Rechtsextremen in Gang gebracht, wie Sie hofften?

Daimagüler: Mehr und mehr. Da kommen auch die Morde von Oslo dazu und das Attentat auf die Abgeordnete Giffords in Arizona. Wir haben in Deutschland ja diese Debatte um Thilo Sarazzin. In meinem Freundeskreis heißt es immer wieder: Neonazis - geht ja gar nicht. Aber bei der Frage, was mit Sarrazin ist, fängt das ,Ja, aber' an. Da sage ich: Ihr müsst vorsichtig sein. Wenn ein Rassist mit Doktortitel vom Juden- und vom Moslem-Gen spricht und von Hunderttausenden bejubelt wird, ist klar, dass eine Clique Jugendlicher sagt: Das ist der Auftrag. Dabei hat sich Deutschland in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht positiv verändert. Zugleich hat sich aber eine Minderheit abgekoppelt und radikalisiert. Ich denke, dass die Integration der Jugendlichen der neuen Länder in großen Teilen gescheitert ist. Die Frage, wie wir damit umgehen, wird nicht aufgeworfen. Bei Vorträgen in neuen Ländern kommen manchmal Jugendliche verschämt zu mir und sagen, sie seien die einzigen Nicht-Nazis ihrer Schule.

Standard: Genauso gibt es Schulen, in denen kaum Kinder mit deutscher Muttersprache sind. Auch ein Beispiel für gescheiterte Integration?

Daimagüler: Das sind Probleme in den Ballungszentren aufgrund einer verfehlten Städtepolitik. Laut einer Umfrage wollen Türken am liebsten Deutsche als Nachbarn, umgekehrt kommen Türken als Nachbarn bei Deutschen ganz unten auf der Liste. Hinzu kommt, dass Türken, die bürgerlich geworden sind, auch wegziehen. Da muss man in den Bildungssektor investieren. Aber missverstehen Sie mich nicht: Es gibt Probleme in der Integrationspolitik: Sprachdefizite, Gewalt - auch in Familien, das Patriarchat.

Standard: Und: Viele junge Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland - und in Österreich - sind ohne Ausbildung oder Job.

Daimagüler: Ein echtes Problem ist, dass wir kein erstklassig ausgebautes Kindertagesstättennetz haben. In Deutschland zeigen Umfragen, dass die Eltern von Einwanderungsfamilien bildungsorientierter sind als deutsche Familien, nur: Der Wunsch allein reicht nicht. Wenn die Eltern Kindern bei Hausaufgaben nicht helfen können, ist das ein Problem. Daher ist frühkindliche Bildung ab zwei Jahren umso wichtiger. Das zweite Problem ist die frühe Aufteilung der Kinder in Hauptschulen und Gymnasien.

Standard: Sie schreiben in Ihrem Buch "Kein schönes Land in dieser Zeit", Ihnen hätten als Schüler Vorbilder türkischer Herkunft gefehlt. Besuchen Sie heute Schulen?

Daimagüler: Wenn ich dazu eingeladen werde, mache ich das, auch wenn ich mich nicht als Vorbild sehe. Mein Buch leistet ja auch ein Stückweit diese Arbeit. Ich bekomme viele Leserbriefe, häufig steht darin, dass die von mir beschriebenen Gefühle - Ausgrenzung, Einsamkeit, Ablehnung - den Schreibern bekannt sind; nicht nur Migranten, etwa auch einem schwulen 16-Jährigen aus einem Kaff im Saarland.

Standard: In Buchkritiken hieß es, Sie rechnen mit dem Staat ab.

Daimagüler: Ich finde, das Buch liest sich in weiten Teilen wie eine Liebeserklärung an meine Heimat Deutschland.

Standard: Was kommt als Nächstes? Drängen Sie weiter an die Öffentlichkeit?

Daimagüler: Ich habe die Politik nach einigen Jahren ja wieder verlassen, und das Buch habe ich in erster Linie für meine Mutter geschrieben, denn nächstes Jahr werden es 50 Jahre, dass meine Eltern nach Deutschland kamen. Ob ich in die Öffentlichkeit dränge? Vielleicht bei Zwickau, da macht es Sinn, über Dinge zu reden. Aber so toll ist es in der Öffentlichkeit ja auch nicht. (DER STANDARD-Printausgabe, 18./19.02.2012)