Der Riss, der durch die Welt und jeden Einzelnen geht: Walter Kappacher lässt seinen Protagonisten Wessely weit weg gehen.

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Walter Kappacher, "Land der roten Steine". € 18,40/160 Seiten, Hanser, München 2012

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Wenn jemand Wessely heißt und den Gutteil seines Lebens als Gemeindearzt in Bad Gastein zugebracht hat, und wenn dieser jemand mit einer befreundet gewesen ist, deren Gedichte Thomas Bernhard "wohlwollend rezensiert" hat (die Rede ist von Maria Zittrauer), dann scheint in ihm alles angelegt zu sein, was es für einen Protagonisten eines sogenannten typisch österreichischen Romans braucht, Rundumschlä-ge inklusive. Aber naturgemäß zeichnet sich beständige Literatur dadurch aus, dass sie Erwartbares meidet, Erwartungen unterläuft.

Die Frage, was er vom Leben noch zu erwarten habe, ist es auch, die Wessely an- und umtreibt. Am Anfang steht für einen gestandenen Arzt immer die Anamnese, die nicht selten damit einhergeht, Dinge beim Namen zu nennen, auch wenn das schmerzhaft an den Lebenslügen rührt. Da wäre im Fall Wessely zunächst einmal die Einsicht, das es still um ihn geworden ist: "Früher einmal hatte er sogenannte soziale Kontakte gehabt; irgendwann war ihm klargeworden, dass diese Menschen ihn langweilten. Ihre politischen Ansichten hatten ihn aufgeregt, sodass er manchmal eine Runde verlassen musste. Er verstand nicht, wie es möglich war, dass fast immer das niedrige geistige Niveau über ein höheres dominierte."

Doch schon der Folgesatz bezeugt, dass wir es hier nicht mit einem Geistesmenschen Bernhard'schen Zuschnitts zu tun haben: "Seine Gedanken kreisten beim Spazierengehen manchmal um ein Domizil in Wien, Graz oder sogar München." Wohin aber soll einer gehen, dem Stifter nicht fremd ist und der im Grunde weiß, dass er auf der Suche nach bunten Steinen in Wien vor allem auf Turmalin stoßen wird? Wessely geht weiter weg, viel weiter, reist in den Südwesten der USA, nach Utah, in den Canyonlands-Nationalpark, und hofft fündig zu werden im "Land der roten Steine".

Und tatsächlich überwältigen ihn die Farben und Formen der bizarren Steinformationen, die prähistorischen Felsmalereien in und um "The Maze", dem "Labyrinth", in dem er einige Tage verbringt. Es sind "zeitlose" Tage mit intensiven, zeitweilig metaphysischen Erfahrungen, die er dort zubringt, wo ihn kein Ariadne-Faden herausführen kann (das besorgt sein indianischer Tourguide). Tage, die seine "namenlose Sehnsucht" zwar nicht vollends stillen, aber ihm eine Ahnung davon vermitteln, was zu tun ist oder zu tun gewesen wäre: "Ein neues Leben, wie er es sich vor seinem Rückflug in Aufbruchsstimmung erträumt hatte, schien immer ferner zu rücken. Und wie sollte denn auch ein solches Leben beschaffen sein? (...) Aber er hoffte, es bliebe ihm noch genügend Zeit, um in andere Räume einzutreten."

Wie ernsthaft Wessely es nach seiner Rückkehr angehen wird, gegen das Leben im Konjunktiv anzukommen, bleibt im Roman offen. Was bleibt, sind schöne Sätze. Derer gibt es im Text so viele, dass man geneigt ist, selbst jene wenigen, die sich bei näherer Betrachtung als verdächtig erweisen, nicht weiter infrage zu stellen: "Etwas hatte sich ihm gezeigt, das doch Materie war, Gestein, Form und gleichzeitig etwas wie strahlende, rätselhafte Energie. (...) Es zu schauen war wohl das höchste an Glücksgefühlen gewesen, was er je erlebt hatte, so als hätte er für einen Moment in das seit Anbeginn verlorene Paradies blicken dürfen."

Dass der Riss, der durch die Welt und jeden Einzelnen geht, durch Kontemplation nicht aufzuheben, weil seine Irreversibilität konstituierend für ihn ist, weiß auch Wessely. Es sind allen voran die Romantiker gewesen, die sich am radikalsten an dem Überwinden dieser Entzweitheit versucht haben, und so nimmt es nicht wunder, dass dieser Roman zutiefst in der romantischen Nachfahrenschaft steht, explizite wie implizite Verweise gibt es sonder Zahl. Wie schmal aber der Grat zwischen revolutionärer und reaktionärer Literatur ist, wird anhand der wechselvollen Romantik-Rezeption deutlich. Beides ist bei Kappacher zweifellos nicht der Fall, aber sich weit hinauszulehnen, ohne zu kippen, zählt wohl zur bemerkenswertesten Leistung dieses Buches, auch wenn sich da und dort die Licet-Frage durchaus stellen ließe.

Es ist ärgerlich, dass der Verlag einem Autor dieses Ranges kein angemessenes Lektorat zur Seite gestellt hat, dem es nicht entgehen hätte dürfen, wenn aus Wesselys Tochter Hanne fälschlicherweise plötzlich seine Enkelin Lisa wird. Aber trotz dieses Schönheitsfehlers bleibt ein lebenskluger Roman, der die Bildsprachen von Natur und Kunst geschickt zusammenführt und zur Betrachtung beider ermuntert: "Vor ein paar Tagen war er beim Blättern in einem Kunstband auf das berühmte Werk Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle gestoßen: Gottvater und Adam, in luftigen Höhen schwebend, wie sie versuchen, sich die Hände zu reichen; beinahe berührten sich ihre Finger. Aber in diesem winzigen Abstand, so schien es Wessely, war das ganze Dilemma besser als in Stößen von Gedrucktem für alle Zeit gesagt." Kappacher braucht für das "ganze Dilemma" gerade einmal 160 kurze Romanseiten. Wer es noch kürzer will, ist bei Rilke bestens aufgehoben: "Alle Angst ist nur ein Anbeginn; / aber ohne Ende ist die Erde, / und das Bangen ist nur die Gebärde, / und die Sehnsucht ist ihr Sinn.  (Josef Bichler / DER STANDARD, Printausgabe, 18./19.2.2012)