Zwei Ereignisse haben den Nimbus Wladimir Putins als unbestrittene und von der überwältigenden Mehrheit der Russen unterstützte Führungspersönlichkeit zerstört: die Bekanntgabe seiner neuerlichen Kandidatur für die Präsidentschaft, also die Aussicht auf weitere zwölf Jahre an der Macht, und die massiven Fälschungen bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Diese Einschätzung prägt den Ton der meisten Kommentare in der internationalen Presse am Vorabend der Präsidentenwahl.

Michail Gorbatschow, der im Westen so hoch geschätzte, aber in Russland selbst kaum wahrgenommene letzte Präsident der Sowjetunion, hat kürzlich Putin öffentlich aufgefordert, auf eine Kandidatur zu verzichten, und dessen zwölfjährige Bilanz an der Macht scharf kritisiert: "Viele Dinge sind nicht gelöst: Armut. Bildung, Wohnungsnot, medizinische Versorgung und Korruption."

Bereits vor den Parlamentswahlen hatte Gorbatschow Putin einen unfairen Wahlkampf vorgeworfen und zu Recht vor Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen gewarnt. Das Fehlen von freien Wahlen und das Demokratiedefizit seien die größten Probleme: "Eigentlich ist es beschämend; man muss wieder bei null anfangen." Die Serie von Massendemonstrationen nach den krassen Fällen von gefälschten Wahlergebnissen spiegelte die Enttäuschung und Wut der durch Internet und Facebook organisierten Mittelklasse. Putins Sprecher bemerkte zynisch, es handle sich bloß um 200.000 gutsituierte und gelangweilte Moskowiter, die Aufregung suchten, wogegen der große Teil der Bevölkerung Putin unterstütze, weil er Angst vor der Instabilität habe. Der Patriarch der orthodoxen Kirche bezeichnete sogar das bisherige Wirken Putins als "ein Wunder Gottes".

Nach einer Serie von Auftritten und Versprechungen und vor dem Hintergrund einer massiven Medienkampagne gegen politische Opponenten stieg Putins Popularitätskurve wieder etwas - angeblich auf 48 Prozent - an. Aus der Stadt Nizshni Tagil, ein Industriezentrum im Ural, trat ein Arbeiter im russischen Staatsfernsehen auf und erklärte, er und seine Kollegen seien bereit, nach Moskau zu gehen, um Putin vor den Protesten zu schützen. Nach einem Besuch dieser Stadt hatte Putin vor zwei Jahren eine Rüstungsfabrik für Panzer durch Subventionen vor dem Bankrott gerettet. Trotzdem beschrieb ein Korrespondent der New York Times nach einer Recherchenreise in die gleiche Stadt die Atmosphäre als eine der Zurückhaltung, Verdrossenheit und Enttäuschung. Man könne nicht von einem "Putin-Mythos" sprechen, aber es gebe eben keinen anderen Kandidaten, sagte ein älterer Vorarbeiter.

Ob nun die überraschende und vom Kreml zugelassene Kandidatur des umstrittenen Geschäftsmannes und derzeit drittreichsten Russen Michail Prochorow die Mauer des Misstrauens der Wähler überwinden und dadurch zumindest eine zweite Wahlrunde erzwingt, ist nicht auszuschließen, gilt aber als unwahrscheinlich. Gut möglich allerdings, dass gerade ein Putin-Sieg schon im ersten Wahldurchgang der oppositionellen Bewegung mächtigen Auftrieb verleihen wird. (DER STANDARD, Printausgabe, 14.2.2012)