Nach erquicklichen Stunden sitzen Großbürger auf unerklärliche Weise in einem Salon fest: Luis Buñuels Film "Der Würgeengel" als Theaterstück im Burg-Kasino (im Bild: Bibiana Zeller).

Foto: Georg Soulek / Burgtheater

Lexikoneinträge zu einem rätselhaften Stoff.

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El ángel exterminador: Der Titel des von Luis Buñuel 1962 in Mexiko gedrehten Films verrät wenig über den labyrinthischen Reiz der Gesellschaftsparabel. Eine Gruppe törichter und geschwätziger Großbürger sitzt während einiger zermürbender Tage in der Villa des kunstsinnigen Edmundo Nóbile (im Burgtheater-Kasino dargestellt von Ignaz Kirchner) fest. Man lässt eine Aufführung der Lucia di Lammermoor bei Nierchen und Kaviar ausklingen. Als das Fortschreiten der Zeit eigentlich den Aufbruch gebietet, befällt die Gäste allesamt eine rätselhafte Lähmung: Die Herrschaften erweisen sich als unfähig, den Salon zu verlassen. Man campiert auf Sofas und Teppichen, die Notdurft wird hinter Kastentüren unter Zuhilfenahme kostbarer Vasen verrichtet. Hysterie und Zerrüttung kennzeichnen die Handlungsweisen der nunmehr ohne ersichtlichen Grund inhaftierten Personen.

Domestiken: Die Dienerfiguren zeigen Fluchtinstinkte, noch ehe die verhängnisvolle Party überhaupt begonnen hat. Eine Servierkraft will "bloß mal auf die Straße", ein anderer Diener gibt vor, seine Schwester sei erkrankt. Auch sonst ist es mit der Belastbarkeit des Personals nicht weit her: Als auf Geheiß der Gastgeberin vom Diener ein zünftiger "Schmortopf à la Maltaise" als "Appetitanreger" aufgetragen wird, schlägt der arme Tropf der Länge nach hin.

Ewigkeit: Der Surrealist Luis Buñuel (1900-1983) hat seine bourgeoisen Wurzeln nicht zu verleugnen gebraucht, um seinen Ekel vor der besitzenden Klasse trotzdem zu zelebrieren. Es führt zu nichts, den Würgeengel nach Plausibilität abzuklopfen. Die über das Grüpplein Menschen verhängte Haft ist das höhnische Echo auf die Unumstößlichkeit sogenannter ewiger Werte. Die Party der Nóbiles wird zur Sitzprobe für die Seligkeit im Jenseits. In der Villa mit den unsichtbaren Schranken wird geliebt, getobt und gestorben, während die Zeit immer mysteriöser verrinnt. Ein Liebespaar, das sich im Schutz eines Kastens versteckt hält, wähnt sich sogar seit Monaten eingeschlossen: Es schneidet sich die Pulsadern auf.

Traum: Buñuels Vorliebe für die Mechanismen des Traumgeschehens geht bis auf seinen Erstling Der andalusische Hund (1929) zurück. Träume erzeugen unter Umständen "falsche" Ewigkeiten. Die Arbeit des Unbewussten resultiert in Schleifen und Kehren, die ein Gefühl der Wiederholung hervorrufen können. Prompt ist es im Film Leticia "La Walkiria" (Stefanie Dvorak), die den Bann auflöst, indem sie die Festgäste zum Ergreifen jener Positionen drängt, die diese am ersten Abend ihres Zusammenseins einnahmen. Man könnte sagen: Erst mit dem neuerlichen Durchlaufen des "Symptoms" wird die Lähmung zum Verschwinden gebracht. Aber das wäre psychoanalytisch, und Buñuel lehnte die Psychoanalyse ab.

Zerfall: Kaum sind die Damen und Herren ihrem Verbannungsort entronnen, widerfährt ihnen im Inneren einer Kathedrale das nämliche Schicksal: Kirchgänger und Priester sind unfähig, das Gotteshaus zu verlassen. Am Platz vor der Kirche löst berittene Polizei eine Demonstration auf. Schafe drängen in die Kirche. Am Fleisch von Schafen hatten sich die eingesperrten Partygäste bereits in der Villa gütlich getan. Es scheint, als ob die Zeit, und mit ihr der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, aus den Fugen wäre.

Zuletzt: Die Buñuel-Adaption von Der Würgeengel hat an diesem Sonntag im Kasino am Schwarzenbergplatz Premiere (u. a. mit Bibiana Zeller, Andrea Clausen, Catrin Striebeck und Maria Happel). Der Schauspieler Martin Wuttke hat sich dafür eigens in den Regiesessel gesetzt: ein Nachschöpfer des Herren (Luis Buñuel), der Der Würgeengel 1962 in wenigen Tagen herunterkurbelte. Nach der Oper. Würgeengel ist jetzt "eine masochistische Komödie". Als Elfriede Jelinek ihr Rechnitz-Stück mit dem Untertitel Würgeengel versah, hatte sie vielleicht gerade diesen Aspekt im Blick: Die Geschichte muss sich aus Anlass ihrer Wiederholung nicht als Farce entpuppen. Sie kann auch eine Tragödie sein. (Ronald Pohl, DER STANDARD - Printausgabe, 11./12. Februar 2012)