Letzte Begegnungen eines zum Tode Geweihten in den Straßen von Dakar: Alain Gomis' Berlinale- Wettbewerbsbeitrag "Aujourd'hui".

Foto: Mabeye Deme

Paradoxe Wendungen erklärt man am besten mit paradoxen Bildern. "Ist dir schon einmal passiert, dass du in eine Küche gegangen bist und dann nicht mehr wusstest, warum?", wird Satché an einer Stelle von seinem Onkel gefragt. Dann fügt er hinzu: "Auf ähnliche Weise ist nun der Tod an dich herangetreten." Alain Gomis, ein französischer Regisseur mit senegalesischen Wurzeln, erzählt in seinem Film Aujourd'hui (Tey) vom letzten Tag im Leben eines Mannes. Der Tod wird allerdings als ein Ereignis eingeführt, vom dem der Protagonist weiß: Satché, dieser Mann im besten Alter, dem der US-amerikanische Slam-Poet und Musiker Saul Williams eine fast geisterhafte Präsenz verleiht, wird somit nicht einfach aus dem Dasein gerissen; ihm bleibt noch eine Art innere Zeit, um Stationen seines Lebens durchzugehen.

Dass Aujourd'hui im Wettbewerb der Berlinale läuft, ist neben Benoit Jacquots Eröffnungsfilm ein weiteres Indiz dafür, dass man in diesem Jahr bereit ist, riskantere Wege zu bestreiten. Gomis hat einen ungewöhnlichen Film realisiert, der sein Szenario mit viel Lust an genuin filmischen Auflösungen verfolgt. So sitzt der Held, aus Amerika in seine Heimat Senegal zurückgekehrt, zu Beginn im Kreis seiner Familie: Gesichter, Hände und Augenpaare sind in Großaufnahme zu sehen, Erinnerungen und Worte des Bedauerns werden ausgesprochen. Satché nimmt das alles auf, ohne sich gegen sein Schicksal zu wehren.

Ein "Jedermann" in Dakar

Es erinnert ein wenig an die Jedermann-Geschichte, wie man dem Helden daraufhin durch Dakar begleitet, wo er Menschen begegnet, die in seinem Leben von Bedeutung waren. Allerdings geht es nicht um Aussöhnung, nicht um offene Rechnungen, sondern um ein offeneres Verfahren. Reales durchdringt Imaginäres, ein Riss zwischen Vergangenheit und Gegenwart tritt auf: Satché trifft auf alte Kumpels, die sich wie Hunde aneinanderreiben, er begegnet seiner Geliebten in einer Galerie, ohne ihr nahekommen zu können, er kehrt endlich in den Schoß seiner Familie zurück, um sich von Phantomen der Vergangenheit loszuschütteln.

Gomis' Inszenierung schafft (gemeinsam mit der wendigen, sinnlichen Kamera von Crystel Fournier) Szenen, die das städtische Umfeld spielerisch ins Geschehen einbeziehen. Der Film wirkt zugleich dokumentarisch wie choreografiert - dies ist der seltene Fall einer Arbeit, die die visuelle Fülle der Welt mit einem Sterbenden entdeckt, ohne sich in Sentimentalitäten zu verlieren.

Wo Gomis seinen Figuren Raum zum atmen lässt, zieht der österreichische Regisseur Umut Dag¢ in seinem Spielfilmdebüt Kuma die Vorhänge zu und hantiert mit allzu schematischen Profilen. Weitgehend in der engen Wohnung einer türkisch-stämmigen Familie spielt dieses Drama, das sich mit durchaus virulenten Fragen wie dem starren Festhalten an Traditionen beschäftigt. Am Beginn steht eine arrangierten Ehe zwischen dem Sohn des Hauses und einer anatolischen Frau. Ein Ereignis, das die Familie in Wien in einen Zustand der Anspannung versetzt - und zwar nicht nur, weil dann der Vater statt dem Sohn die ehelichen Pflichten vollzieht.

Dag¢ fährt in seinem Film, der in Berlin die Reihe Panorama eröffnet hat, jedoch zu viele dramatische Geschütze auf, anstatt sich auf einen Konflikt konzentriert einzulassen. Nach der Krebserkrankung der Mutter, Herz der Familie, folgt ein Unglück aufs nächste. Die Figuren sind Stellvertreter für Ideen, treiben gewichtige Themen voran, entwickeln aber trotz bemühter Darsteller wenig Eigenleben. Gerade einem Film, der von begrenzten Rollenmodellen innerhalb traditioneller Familiengefüge erzählen will, sollte es möglich sein, mehr Widersprüche und Zwischentöne zuzulassen. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD - Printausgabe, 11./12. Februar 2012)