Ilse Helbich, "Grenzland Zwischenland. Erkundungen". € 18,00 / 128 Seiten. Droschl, Graz 2012

Cover: Droschl Verlag

Dieses Buch entzieht sich der literarischen Kritik. Und doch wieder nicht. Erst im Alter von 80 Jahren schrieb die 1923 geborene Ilse Helbich ihren ersten Roman. Davor hatte die promovierte Germanistin lange als Journalistin, Übersetzerin und Radioautorin gearbeitet.

Nun, nach mehreren Bänden mit autobiografischer Prosa - Das Haus etwa - also "Erkundungen", wie der Untertitel ihres neuen Buches verheißt, datierte Aufzeichnungen aus dem ersten Halbjahr 2011 plus ein kurzer, im Oktober formulierter Nachsatz. Es sind Notizen, Gedanken, Beobachtungen jenseits jeder Genreklassifizierung.

Diese Aufzeichnungen umkreisen das Wissen um den nahenden Tod und das, was bleibt. Sinnen nach über das gelebte Leben, über Krankheit, bei ihr ist dies eine Makuladegeneration, die blinde Flecken im zentralen Sehfeld entstehen lässt, nachlassendes Augenlicht, Stürze (die gelegentlich mit überbordendem Humor genommen werden), die Kinder, eine Reise mit der Familie, eine Fahrt nach Strobl am Wolfgangsee.

Vergesslichkeit, Fragilität und der Zeit enthobene Zustände werden kristallin beschrieben, das Diesseits und das Jenseits, Gelassenheit und Wachheit, Resistenz, Resilienz und Niedergeschlagenheit; und das Schreiben. Das Schreiben als Halt, das Wörterabwägen und denkende Aufschreiben als Lebenssinn gebende Struktur. Als Innehalten.

Ein harter Blick? Manchmal. Allerdings nie ein grimmiger. Ein müder Blick? Immer häufiger. Ein Blick voller Entsetzen auf eine fremd werdende Welt? Das an einer Stelle. Dafür ist Helbich noch mit 88 Jahren zu neugierig, zu gespannt, und, ja, auch das, zu weise. Und sich ihrer selbst bewusst.

Überdies gebricht es ihr weder an Humor noch an Ironie. Zudem ist sie, wenn sie frühe Erinnerungen an die Kindheit und an die Kriegserlebnisse 1945 in Wien schildert, frei von verklärender Nostalgie und der falschen Patina idyllischer Rückwärtsgewandtheit.

Der in Wien lebende Vorarlberger Arno Geiger brachte vor einem Jahr ein ergreifendes Porträt seines an Alzheimer erkrankten Vaters heraus, seine Perspektive war die eines einfühlsamen Beobachters, der weder seine eigenen Wirrnisse, emotionalen Zurücksetzungen und sachten Ungehaltenheiten verleugnen wollte, noch Nähe, Wärme und Innigkeit.

Ilse Helbichs Sicht ist konträr, viel direkter, unmittelbarer, näher, bedrängender, ergreifender. Viele Sätze will man sich anstreichen und herausschreiben, viel zu viele sind es dann am Ende, anmutige, einfache, kluge, poetische, reiflich abgewogene, die eben nicht für unreif von ihr befunden worden sind, wie Ilse Helbich das in einer langen Passage über ihren skrupulösen Schreibprozess skizziert.

Gleich auf einer der ersten Seiten heißt es: "Nichts ist unabänderlich, nichts fest, alles fließend, kaleidoskopisch." Damit ist die Methode ihres nur scheinbar unzusammenhängenden Aufschreibens präzis beschrieben. Ein Buch über das Leben ist dies, das Glück des Lebens und seine verglimmende Intensität. (Alexander Kluy, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 11./12. Februar 2012)