Die Chilenin Camila Vallejo, 23-jährige Anführerin der Demonstrationen für ein erschwingliches Studieren, an denen sich 1,5 Millionen Menschen beteiligten, ruft nun zur Überwindung gegen des gesamten marktradikalen Systems auf.

Foto: DER STANDARD/Stackl

Jorge Murua vom Gewerkschaftsverband CUT beklagte bei einer Veranstaltung an der Uni München, dass die Arbeiter in Chile keine Rechte hätten und das Streik verboten sei. "Wenn die Padrones, die Bosse, die Gesetze machen, müssen sie eben gebrochen werden", rief er.

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Karol Cariola, Dritte im Bunde der chilenischen Aktivisten, die derzeit in Europa für ihre Anliegen werben, erinnerte an Happening wie einen Massen-"Thriller"-Tanz vor dem Regierungspalast und den "Besatón" - ein Riesen Kiss-In von Demonstrantinnen und Demonstranten.

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Bis zu 1,5 Millionen Menschen gingen voriges Jahr in ganz Chile demonstrierend auf die Straße, um gegen das unsoziale, für viele sogar unerschwingliche System höherer Bildung zu protestieren. Als diese Woche drei Organisatoren der chilenischen Protestbewegung - Camila Vallejo, Jorge Murúa und Karol Cariola – im Rahmen einer Europatour im krachend vollen Saal F107 der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität ihr Ziel dargelegt hatten, ein sozial gerechtes Chile zu schaffen, brachen die Zuhörer mitten im erzkonservativen Bayern in den auf dieser Seite des Atlantiks schon lange nicht mehr zu vernehmenden Kampfruf der lateinamerikanischen Linken aus:"El pueblo unido jamás será vencido - das vereinte Volk wird niemals besiegt werden."

Die paar Altachtundsechziger, die im Saal zwischen den an Zeitgeistgetränken, aber auch an Libella-Flaschen im Retro-Look nuckelnden Münchner Studenten saßen, waren gerührt. "Mit Camila Vallejo wird der Geist von Salvador Allende wieder wach", erinnerte einer an die Zeiten von Chiles linkem Experiment der Unidad Popular, das 1973 vom Militärputsch Augusto Pinochets blutig abgebrochen wurde. Als einer der Altlinken im Münchner Hörsaal einen weiteren Slogan starten wollte und "HOCH – DIE…" rief, kam als Echo jedoch bloß Schweigen. Von der früher bei solchen Gelegenheiten stets angerufenen "internationalen Solidarität" hatten die Hörer von der Generation der 23-jährigen Geografiestudentin Vallejo anscheinend nichts gehört.

Umso interessanter ist, dass es in etlichen deutschen und anderen europäischen Universitätsstädten einen großen Ansturm junger ZuhörerInnen auf die Veranstaltungen der drei Chilenen gab (die in Deutschland von der Bildungsgewerkschaft GEW und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert wurden). Abseits aller Nostalgie waren sie wohl der Ausdruck eines feinen Gefühls dafür, dass die weltweite Bewegung der über die herrschenden Verhältnisse Empörten in Chile besonders wirksame und einen Großteil der Bevölkerung mitreißende Ausdrucksformen gefunden hat. Dass sich Vallejo, die Vizepräsidentin der chilenischen Studentenvereinigung, wie auch die von der Universität Concepcion kommende Karol Cariola zur Kommunistischen Partei bekennen, ist dabei keine Hauptfrage. Chiles KP spielte in der Politik des Landes in den vergangenen Jahren nur eine untergeordnete Rolle und die Jungen weichen auch, wo sie es für nötig halten, manchmal von der Parteilinie ab. Sie gehören aber jedenfalls nicht zu den beiden Machtblöcken, die Chile aus ihrer Sicht "seit vierzig Jahren beherrschen": der Rechten, die schon Pinochet unterstützt hatte und das Bündnis "Concertación" aus Sozial- und Christdemokraten, von dem das unter Pinochet in Chile als "Pionierland" eingeführte neoliberale System bloß weiter "administriert" wurde.

Die Hauptaussagen der neuen sozialen Bewegung um Cariola, Vallejo & Co habe ich in einem Artikel für die Printausgabe des Standard beschrieben, den man HIER nachlesen kann.

Was das Trio darüber hinaus zu sagen hatte, scheint mir aber ausreichende spannend zu sein, um es wiederzugeben.

Bei einem Gespräch mit einer kleinen Journalistenrunde wurde Camila Vallejo von einer jungen Radiojournalistin gefragt, ob sie eine Aufmunterung für die deutschen Studenten hätte, die als "Generation der Meinungslosen" bezeichnet werde. "Ich war auch einmal Teil dieser Generation, es bestand Hoffnungslosigkeit". Doch dann hätte in Chile, zunächst die Mittelschüler, die Apathie abgelegt. Sie verwies auf das Motto des weltbekannten chilenischen Malers und Bildhauers Roberto Matta (verstorben 2002): "Crear para creer" – Man müsse selbst etwas schaffen, woran man dann glauben könne.

Schon 2006 gingen die Schüler gegen die Regierung (die damals von der populären Sozialistin Michelle Bachelet geführt wurde) auf die Straße, um gegen ein Bildungssystem zu protestieren, das auf privates Gewinnstreben von Schul- und Unibetreibern ausgerichtet ist. 2011 seien dann die Protestbewegungen der Studierenden, der Arbeiter (deren anderswo hochgehaltenen Rechte auf Organisation, Streik und Kollektivvertrag in Chile nicht existieren) "zusammengeflossen". Auch Umweltschützer, die gegen Dammbauprojekte in der noch unberührten Natur Patagoniens kämpfen, kamen dazu, wie auch Vertreter der Indigenen, vor allem des Mapuche-Volkes im Süden Chiles. Gemeinsam habe man Forderungen entwickelt, mit denen das gesamte neoliberale System infrage gestellt werde.

Das "Marktmodell" im Bildungsbereich sei 30 Jahre nach seiner Einführung eindeutig als gescheitert zu betrachten. Es sei nicht nur teuer (nicht für den Staat, der trägt dazu viel weniger bei als die meisten jener westlichen Industriestaaten, an die Chiles Führungsschicht das Land makroökonomisch bald annähern will.) Auch die Qualität habe sich verschlechtert und die ideologische Ausrichtung verengt – es gebe keinen Meinungspluralismus.

Das (abgewandelte australische, auch in Österreich diskutierte) Modell der Studienfinanzierung, bei dem man einen Kredit aufnehmen und nach dem Studium fix mit Zins und Zinseszins zurückzahlen muss, führe dazu "dass Ärmere für das Studium letztlich mehr bezahlen als Reiche".

Ähnliche Verhältnisse gibt es auch im Gesundheitswesen oder beim Wohnbau, wo Kleinverdiener den staatlichen Vorschuss für 35-Quadratmeterwohnungen ewig zurückzahlen müssen, sagte der mit Vallejo nach Europa gekommene Jorge Murúa vom Gewerkschaftsverband CUT. Deshalb würden die Arbeiter nichts davon spüren, wenn die Gesamtwirtschaft wieder einmal um sechs Prozent gewachsen sei und das Pro-Kopf-Einkommen aller Chilenen – eben als Durchschnittswert – 15.000 Dollar betrage.

Deshalb sehen sich die Arbeiter gezwungen, nun auch politische Forderungen zu stellen, über kleine Lohnerhöhungen allein sei nichts zu ändern. Die Forderungen umfassen ein neues Wahl- und ein nicht länger die Reichen begünstigende Steuerrecht sowie die Wiederherstellung der Arbeitnehmerrechte, die seit der Diktatur aufgehoben sind und auch die (Wieder-)Verstaatlichung der von Privaten ausgebeuteten Bodenschätze.

Darum sei es auch bei dem bahnbrechenden zweitägigen Generalstreik im vergangenen Jahr gegangen. Vor den Studenten der Münchner Uni erinnerte Murúa nochmals daran, dass der Ausstand aufgrund der Gesetzeslage illegal war, um dann, lauten Beifall provozierend, in den Saal zu rufen: "Wenn die Padrones, die Bosse, Gesetze machen, dann müssen sie gebrochen werden!"

Anschließend erinnert Karol Cariola daran, dass in Chile von 1973 bis 1990 "eine der blutigsten Diktaturen Lateinamerikas" geherrscht habe. Damals hatten einige in den USA ausgebildete Wirtschaftsstudenten, die Chicago Boys, sozusagen als Weltpremiere, den Neoliberalismus eingeführt, der sich tief in die politische Kultur des Landes eingegraben habe: Egoismus und Konsumismus seien herausragende Eigenschaften geworden. Ein Tag vor dem Ende der Diktatur sei die – schon früher vorbereitete – Privatisierung des Erziehungswesen in die noch immer gültige Verfassung aufgenommen worden.

Die nach der Rückkehr zur Demokratie regierende "Concertación" haben das die gesellschaftliche Ungleichheit fördernde Modell dann sogar noch vertieft.

Seit der Jahrtausendwende hätten die Chilenen die Angst vor gesellschaftlichem Engagement dann aber nach und nach abgelegt. Die Schüler und Studenten hätten mit überraschenden Aktionen auch einen ganz neuen Wind in die Auseinandersetzung gebracht. "Einmal tanzten 5000 Leute gegenüber dem Regierungspalast La Moneda zu Michael Jacksons Thriller." Dann gab es den "Besatón", einen 30-minütigen öffentlichen Kuss-Marathon unter den Demonstranten für eine gebührenfreie, qualitätsvolle Uni-Bildung. Rasche Kommunikation per facebook und Twitter (wo "Camila_Vallejo" 390.000 Follower hat) . Dauerläufe von Demonstranten um das Regierungsgebäude und auf Hauptplätzen im ganzen Land hielten das Thema wach, bis 1,5 Millionen Menschen im ganzen Land, "auch Eltern, Omas und Opas" mitmachten. Zwei Erziehungsminister traten zurück, die Popularität des Präsidenten sank in den Keller und sie seither bei beschämenden 23 Prozent geblieben.

Es habe in Chile "einen kulturellen Wandel" gegeben, sagte Vallejo, die zugleich aber einräumte, dass von den Forderungen fast nichts durchgesetzt worden sei. Lediglich der Zinssatz für die Rückzahlung der Bildungskredite sei etwas gesenkt worden. "Die Differenz wird den Banken vom Staat ersetzt." Das sei sinnlos hinausgeworfenes Geld gewesen, das man besser in die Qualität der Bildung gesteckt hätte. Es habe deshalb auch niemand zu protestieren aufgehört.

In Chile heißt es nun, dass die Aktivisten der Protestbewegung, vielleicht auch Camila Vallejo selbst, künftig auch bei Wahlen antreten wollen. In einem Interview sagte sie zu Jahresbeginn, dass sie die Sozialistin Michelle Bachelet jedenfalls nicht unterstützen werde, falls sich diese 2013 nochmals (und vermutlich als Kandidatin der "Concertacion" mit den Christdemokraten) um die Präsidentschaft bewerben sollte. Das führte zu großer Aufregung bei den Kommunisten, die aufgrund des auf zwei politische Blöcke zugeschnittenen chilenischen Wahlsystems auf Listengemeinschaften mit den Sozialisten angewiesen sind, wenn sie auch nur einen Abgeordneten durchbringen wollen. Vallejo beeilte sich zu sagen, dass noch nichts beschlossen sei, sie sich aber nicht vorstellen könne, jemanden zu unterstützen, der nicht für einen grundlegenden Wandel in Chile eintrete.

Als ich Vallejo in München fragte, ob sie selbst kandidieren werde, wollte sie dazu nichts sagen, wohl aber meinte sie, dass mit verschiedenen linken Gruppierungen an einer gemeinsamen Plattform gearbeitet werde. Sie betonte mehrfach die Zusammenarbeit mit religiös und politisch unterschiedlichen Gruppierungen. Einige dieser Gruppen, darunter Trotzkisten, stehen allerdings links von der KP und kritisieren diese scharf. Im Studentenverband wurde Vallejo von Gabriel Boric von "Creando Izquierda" (eine unabhängige linke Gruppe, die sich auf Antonio Gramsci beruft) bereits auf den zweiten Platz verwiesen.

Von Mutlosigkeit über die Zukunft ihrer "sozialen Bewegung" ist bei Camila Vallejo und ihren Mitstreitern dennoch nichts zu spüren. "Wir sind gekommen, um zu bleiben", sagte sie im Hörsaal der Münchner Uni, selbstbewusst in die Runde blickend.