Udo Jesionek: "Ich bin froh, dass wir so sensibel geworden sind. Jetzt bricht alles auf, was so lange verdrängt werden musste."

Foto: Matthias Cremer

Wien - Josef Hartmann gilt heute als Pionier einer Menschengruppe, die oft über Jahrzehnte zum Schweigen verdammt war: Missbrauchsopfer. Hartmann hatte 1995 die "Causa Groer" ins Rollen gebracht - seither wurden zahlreiche institutionalisierte Missbrauchsfälle in Österreich bekannt, eine Vielzahl an Opfern fasste plötzlich Mut und trat an die Öffentlichkeit. Warum das noch vor 20 oder 30 Jahren undenkbar gewesen wäre, erklärte Udo Jesionek, Präsident der Opferhilfsorganisation Weißer Ring.

Rückblende ins Jahr 1980: Ein Kamerateam der ORF-Sendung "Teleobjektiv" machte sich auf den Weg nach Tirol, um die Behandlungspraktiken der Innsbrucker Kinderpsychiaterin Maria Nowak-Vogl zu beleuchten. Viele ihrer Praktiken erschienen schon damals vorsintflutlich und sorgten bei Kritikern für Entsetzen. Öffentlicher Aufschrei? Keineswegs. Jesionek: "Den Begriff Opfer gab es zu dieser Zeit noch nicht, der gesamte psychosoziale Aspekt kam nicht vor. Man muss bedenken: Posttraumatische Belastungsstörungen wurden erst in den 1980er Jahren von der WHO als Krankheit anerkannt."

Keine Chance

Als Opfer hätte man seinerzeit keine Chance gehabt, "es war einfach kein Interesse da, heute sind wir wesentlich empfänglicher für Missbrauch und Gewalt", so der frühere Präsident des mittlerweile aufgelassenen Jugendgerichtshofs. "Man muss sich das vorstellen: Bis 1975 war es nur ganz bedingt strafbar, wenn ein Mann seine Frau schlägt. Und wenn ein Vater sein Kind geschlagen hat, wurde ihm lediglich Lieblosigkeit vorgeworfen. Sonst nichts."

Wäre damals ein Kind aus dem kirchlichen Internat heimgekommen und hätte berichtet, es sei geschlagen oder gar sexuell missbraucht worden, hätte ihm niemand geglaubt. Deswegen haben die meisten geschwiegen, die Vorfälle verdrängt und ihr Leid still zu ertragen versucht. "Das war ein wahnsinnig spannender Prozess, ich war anfangs auch misstrauisch, dass Leute 30, 40 oder 50 Jahre nach dem Missbrauch noch leiden. Die ganze Dynamik war damals niemandem bewusst", erinnert sich Jesionek.

"Schwarze Pädagogik"

Die klassische "Schwarze Pädagogik" - in der Ecke stehen, "g'sunde Watschn", mit dem Lineal auf die ausgestreckten Hände schlagen - sei normal gewesen. Jesionek: "Das muss man von den entsetzlichen Sadismen schon trennen." Soll heißen: Bestrafung mit enormer Bandbreite - vom Einsperren im Keller über Essensentzug und Stromschläge bis hin zur Spritzentherapie. Und alles unter den Deckmänteln "Erziehung" und "Behandlung".

"Ich bin froh, dass wir so sensibel geworden sind. Jetzt bricht alles auf, was so lange verdrängt werden musste", resümierte Jesionek. Die Täter seien einst total abgesichert gewesen, "sie mussten sich nicht fürchten, sie waren angesehene, normale Bürger".

Wichtiger Schritt

Ein erster wichtiger Schritt sei 1978 gesetzt worden, weshalb seither eine gewisse Aufbruchstimmung eingesetzt habe: Im Jänner die Gründung des Weißen Rings und im Dezember die Eröffnung des ersten Frauenhauses. "Für die Opfer war es schon eine Erleichterung zu realisieren, dass sie nicht alleine sind, keine skurrile Ausnahme. Die Leute haben erst begreifen müssen, dass es keine Schande ist, an die Öffentlichkeit zu treten."

Dass in den vergangenen Jahren die Zahl von Missbrauchsmeldungen steigt, bewertet Jesionek grundsätzlich positiv: "Die Opfer können sagen: Endlich glaubt mir jemand. Und viele waren damit schon völlig zufrieden. Dass es in letzter Zeit häufig vorrangig um Geld geht, gefällt mir allerdings nicht. Das absolut Wichtigste ist immer noch, dass diese Menschen Therapie bekommen, gerade weil in Österreich eine große Scheu besteht, zum Therapeuten zu gehen. Eine finanzielle Entschädigung ist okay, aber es geht vor allem darum, mit jemandem über die Ereignisse von damals sprechen zu können. Die meisten, die zu uns kommen, leiden. Und das schon sehr lange." (APA)