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Claude Guéant.

Foto: REUTERS/Charles Platiau

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Serge Letchimy.

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Den Funken zündete Innenminister Claude Guéant am Sonntag in einer Rede, in der er für einmal über die tägliche Polizeiarbeit hinausdachte: Thema waren die Unterschiede zwischen Zivilisationen (in Deutschland würde man eher von "Kulturen" sprechen). Der enge Vertraute von Nicolas Sarkozy warf der Linken ideologischen Relativismus vor und meinte in Abgrenzung dazu: "Für uns sind nicht alle Zivilisationen gleichwertig."

Guéant ist der Strippenzieher des Präsidenten und sein Mann fürs Grobe, das heißt, für die Wähler aus dem Grenzbereich zwischen der konservativen und extremen Rechten. Aalglatt, manchmal fast autistisch, tritt er mit unmöglichen Äusserungen und "petites phrases" (kleinen Sätzen) immer wieder ins politische Fettnäpfchen.

Oder besser, er tut so. Auch der Vergleich der Zivilisationen war wohlüberlegt. Guéant ging nicht so weit wie Silvio Berlusconi, der einmal von der "Überlegenheit der westlichen Zivilisation" geschwärmt hatte. Aber der Ex-Funktionär zeigte sich nicht einmal erstaunt über die empörten Reaktionen von links und konterte sogleich, es gebiete ihm schon der "gesunde Menschenverstand" festzustellen, dass jede Zivilisation anders sei als eine andere. Und wenn schon, fügte er an, bevorzuge er in der Tat jene Zivilisationen, die zum Beispiel den Frauen gleiche Rechte einräumten und ähnliche Werte verträten.

Guéants nachgereichte Erklärung erfolgte gerade rechtzeitig, um am Dienstag in der parlamentarischen Fragestunde der Nationalversammlung kommentiert zu werden. Allerdings auf eine Weise, mit der Guéant nicht gerechnet hatte. Der Sozialist Serge Letchimy aus dem Karibik-Departement Martinique erinnerte in einem ebenso präzis formulierten, aber viel vehementer vorgetragenen Votum an die "europäischen Ideologien, die nach einer langen Sklaven- und Kolonialserie auch Konzentrationslager hervorgebracht" hätten.

Guéant, der die Ausführungen des sozialistischen Hinterbänklers - und erklärten Sklavennachfahren - zuerst belächelt hatte, war jetzt doch verdutzt, während es auf der rechten Saalseite zu einem Aufschrei der Empörung kam. Letchimy legte aber noch einen drauf und fragte, ob der Kolonialismus etwa eine zivilisatorische Mission dargestellt habe - und vor allem: "War das so auf Reinheit bedachte Naziregime etwa eine Zivilisation?"

Das Naziwort war das Fanal zur Eruption. Die Vertreter der Sarkozy-Partei UMP schossen von ihren Bänken auf, als wären sie persönlich angesprochen, und verließen laut schimpfend den Saal; der Präsident der Nationalversammlung, Bernard Accoyer, unterbrach die Sitzung. Beide Lager verlangten eine Entschuldigung der Gegenseite, und beide verweigerten sie natürlich hochentrüstet.

Noch am gleichen Abend beruhigte sich die Lage aber wieder, und am Morgen danach riefen die Sprecher der Sozialisten wie der UMP über die Radiosender zur allgemeinen Beruhigung der Gemüter auf. Es war, als habe es dieses Eklats bedurft - zuerst die kalkulierte Provokation von rechts, dann die vehemente Reaktion von links. Auf diese Weise werden im französischen Wahlkampf Spannungen abgebaut, so wie in Paris einst Revolutionen stattfanden. Und am liebsten an abstrakten Themen. Bleibt die Frage, worin die tiefere Ursache der Spannung überhaupt bestand. Vielleicht war es die unterschwellige Thematik des ganzen Präsidentschaftswahlkampfes: der Verlust des französischen "Modells", wie es in Paris genannt wird, und des Triple-A, was Frankreich heute sogar zwingt, sich am großen deutschen Nachbarn zu orientieren. Eine schmerzhafte Thematik, die so schnell, wie sie aufgebrochen ist, nun wieder zur Seite gelegt wird. Bis zum nächsten Ausbruch. (derStandard.at, 8.2.2012)