Die Entscheidung, ob ein Kind mit Behinderung besser in der Vorschule aufgehoben ist oder ein weiteres Jahr im Kindergarten verbringen kann, sollte individuell möglich sein, fordern Experten.

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Wien - Wenn Simone Ulreich-Zarotti von ihrer jüngeren Tochter spricht, klingt sie stolz. Stolz darauf, dass die Sechsjährige Fortschritte in ihrer Entwicklung gemacht hat, die Ärzte vor einigen Jahren für unmöglich gehalten haben. Annabelle wurde mit einem genetischen Defekt geboren - "sie hat ein Chromosom verloren", beschreibt es ihre Mutter lächelnd. Bisher sind weltweit nur 35 ähnliche Fälle bekannt.

"Die Diagnose der Ärzte lautete: Diese Kinder sind sehr fröhlich und lernen nie sprechen", erinnert sich die Wienerin. Annabelle kann zwar noch immer nicht alle Laute bilden, spricht aber in grammatikalisch richtigen Sätzen, sie fährt mit Stützrädern Rad, und fröhlich ist sie auch meist. Zu verdanken hat sie das vor allem dem Engagement ihrer Mutter, die jedes mögliche Therapieangebot ergriffen hat, aber auch dem heilpädagogischen Therapie-Institut, in dem Annabelle den Kindergarten besucht hat.

"Dort ist es ihr sehr gut gegangen, und sie hat weitere Fortschritte gemacht", schildert Frau Ulreich-Zarotti. Deshalb hätte sie, als ihre Tochter schulpflichtig geworden ist, aber laut Befund noch nicht schulreif war, diese gern ein weiteres Jahr bis zum Schuleintritt im Kindergarten gelassen, anstatt sie in eine Vorschulklasse zu geben. Was aber von der für Kindergärten zuständigen MA 10 abgelehnt wurde. Schließlich hat man eine Lösung innerhalb der Einrichtung gefunden - mit der Konsequenz, dass Ulreich-Zarotti nun die Kosten für Betreuung und Therapien selbst übernehmen muss, was immerhin 270 Euro mehr im Monat ausmacht.

Auch Anna K. hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Ihr siebenjähriger Sohn hat das Down-Syndrom und geht in einen Kindergarten der St. -Nikolaus-Kindertagesheim-stiftung - dort hätte Frau K. ihr Kind noch gern ein Jahr länger gelassen. "Zunächst hat es auch so ausgesehen, als könnte Sebastian im Kindergarten bleiben, aber zwei Tage vor den Sommerferien hat die MA 10 mitgeteilt, dass er im Herbst in die Schule muss." Ihr Ausweg: Die Anmeldung zum häuslichen Unterricht, der eben im Kindergarten stattfindet. "Zum Glück war ein Platz frei", sagt die Wienerin. Die monatlichen Kosten von 224 Euro muss Anna K. allerdings selbst aufbringen.

"Für die Familie ist das eine schwierige Situation", sagt Mar- lene Erlacher, Sprecherin der St.-Nikolaus-Kindertagesheimstiftung. Gerade bei Kindern mit Entwicklungsverzögerungen wäre es gut, wenn von Fall zu Fall individuell entschieden werden könnte, was für das Kind das Beste ist. Die Möglichkeit, ein Jahr länger im Kindergarten zu bleiben, sollte nicht generell ausgeschlossen werden. Eine Regelung von offizieller Seite wäre für die Kindergärten und auch für die Familien eine extreme Erleichterung.

Eine Lösung fordert auch der Wiener Caritas-Direktor Michael Landau im Gespräch mit dem STANDARD. "Es ist hoch problematisch, dass Kinder mit Entwicklungsverzögerungen nicht die erforderliche Zeit in einem vertrauten Umfeld erhalten - dies ist meiner Ansicht nach auch eine Form von Barriere und Behinderung."

Sowohl bei der MA 10 als auch im Büro von Bildungsstadtrat Christian Oxonitsch (SPÖ) verweist man auf den Stadtschulrat, dieser sei dafür zuständig. "Die gesetzliche Regelung ist klar", sagt Landesschulinspektor Gerhard Tuschel - alle Kinder, die bis zum 1. September sechs Jahre alt werden, sind schulpflichtig. Ist ein Kind noch nicht schulreif, kommt es in eine Vorschulklasse. Die Anmeldung zum häuslichen Unterricht, räumt Tuschel ein, sei die einzige Möglichkeit, für Eltern behinderter Kinder, den Schuleintritt um ein Jahr zu verschieben. Tuschel: "Allerdings kann dann die öffentliche Hand nicht die Kosten übernehmen."

Plätze knapp

Auch an "Lobby4Kids" und "Integration Wien" haben sich mehrere Eltern gewandt, die ihr Kind gerne ein weiteres Jahr im Integrationskindergarten lassen wollen. Die beiden Vereine haben deshalb am 17. Jänner einen Brief an Oxonitsch geschickt, mit der Bitte, eine Lösung zu finden.

"Es kommt wiederholt vor, dass Kinder mit Behinderungen erst mit fünf Jahren in den Kindergarten kommen", schildert Petra Pinetz von "Integration Wien", geeignete Plätze seien knapp. In den städtischen und privaten Kindergärten und Horten werden in Wien rund 2090 Kinder mit Behinderung betreut. Zusätzlich gibt es noch weitere 535 heilpädagogische Plätze.

Trotzdem müsse sie manchmal bis zu 30 Privat-Kindergärten und Tagesmütter abklappern, bis ein Platz gefunden sei, sagt Pinetz. Genauso schwierig sei es für die Eltern, ihr Kind in einer Vorschule unterzubringen. Pinetz: "Ein weiteres Jahr in einem geschützten, vertrauten Rahmen wie dem Kindergarten ist für diese Kinder meist enorm wichtig." (Bettina Fernsebner-Kokert, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4.2.2012)