Auch in Zeiten, in denen - wie es scheint - allen klar ist, dass gespart werden muss, und zwar schnell und beinahe überall, ist die Forderung nach einer adäquaten personellen Ausstattung des Rechts- sowie des Sozial- und Hilfssystems in Österreich notwendig. Nämlich genau aus jenem Grund, aus dem Österreich vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof verurteilt wurde. Ein zweijähriges Mädchen wurde seiner Mutter abgenommen, nach vier Jahren wieder der Mutter übergeben und sodann den Pflegeeltern jeglicher Kontakt zum Kind untersagt (derStandard.at berichtete).

Pflegeeltern gesucht

Die Frage am Rande: Wer kann sich da noch dafür entscheiden, ein oder mehrere Kinder in Pflege zu nehmen? Da nützt selbst die Kampagne in Wiens U- und Straßenbahnen kaum, wenn es da heißt: "Bringen Sie das zusammen?"

Doch abgesehen von der dringenden Suche nach Pflegeeltern ist es an dieser Stelle angebracht darauf hinzuweisen, dass dieses Mädchen vier Jahre (!) bei seinen Pflegeeltern lebte. Das heißt, es kann hier keineswegs von einer kurzen Fremdunterbringung gesprochen werden. Vier Jahre sind eine lange Zeit. Aus der Perspektive einer Sechsjährigen - sie hat zu diesem Zeitpunkt zwei Drittel ihres Lebens bei ihrer Pflegefamilie verbracht - sind sie eine kleine Ewigkeit.

Stellen wir uns vor, zwei Drittel unserer bisherigen Lebenszeit mit Menschen unter einem Dach verbracht zu haben, und plötzlich wird diesen Menschen untersagt, uns zu sehen oder zu treffen. Und gehen wir davon aus, dass wir selbst nicht die Möglichkeit haben, den Kontakt wiederherzustellen. Allein aufgrund dieser Perspektive wäre es wohl angebracht gewesen, dem Mädchen auf schnellstem Wege ein Besuchsrecht bei ihren Pflegeeltern zuzugestehen.

Selbstverständlich ging es um das Besuchsrecht der Pflegeeltern. Doch nicht nur die Pflegeeltern und eventuell auch die Groß(pflege)eltern hätten ein Besuchsrecht erhalten sollen, auch das Kind hätte ein Recht auf Kontakt mit den genannten Menschen gehabt.

Die Rechte der Kinder, deren Perspektiven und Bedürfnisse werden in monate- und jahrelangen Gerichtsverfahren oft vergessen. Zu viele Erwachsene stehen mit ihren Befindlichkeiten und Wünschen im Vordergrund. Sie haben eine Stimme, können sich ausdrücken, vertreten oder durch Anwälte vertreten lassen. Auch sie vergessen dabei mitunter den Menschen, um den es geht: das betroffene Kind. Sie vergessen darauf, die Interessen des Kindes zu vertreten.

Kindliche Perspektive nicht vergessen!

Eben in diesem Moment sind die Instanz des Gerichtes sowie die Jugendwohlfahrt und GutachterInnen gefragt. Wer, wenn nicht sie, soll(te) versuchen, die kindliche Perspektive einzunehmen und deren Interessen und Rechte zu vertreten?!

Aus Perspektive einer Sechsjährigen, die zwei Drittel ihres Lebens bei ihren Pflegeeltern verbrachte hat, ist es abgesehen von bindungstheoretischen Grundlagen völlig unverständlich, weshalb ihr von heute auf morgen zwar ihre leibliche Mutter wieder zurückgegeben wird, ihr jedoch ihre Pflegeeltern weggenommen werden.

Letztlich bleibt aus psychologischer Perspektive anzuführen, dass frühe Bindungen - und das träfe im Fall einer Zweijährigen auf jeden Fall zu - ohne Zweifel für das gesamte Leben eines Menschen bedeutsam sind.

Vor allem fremd untergebrachte Kinder sind anfällig für unsicher verlaufende Bindungen. Und dieses Wissen und diese Sorge haben alle ProfessionistInnen. Bleibt letztlich nur noch einmal die Frage: Warum wurden dem Mädchen seine Betreuungspersonen, an die es sich gebunden hatte, weggenommen? Die Pflegeeltern und -großeltern hätten enorm wichtige Ressourcen durch ihr Beziehungsangebot im Leben des Mädchens darstellen können. Es wäre ein Pool an Beziehungsangeboten gewesen, den genau jene Kinder und Jugendlichen brauchen, deren Eltern(teile) für einige Zeit oder auch für immer aufgrund eigener Probleme ausfallen.

Für das betroffene Mädchen ist es zu spät. Ihre Verunsicherung war und ist vermutlich enorm. Versuchen Sie doch einmal, die Perspektive der damals Sechsjährigen einzunehmen. Sicher unsicher?! (derStandard.at, 7.2.2012)