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Tausende Ägypterinnen und Ägypter gingen am Tag nach den Krawallen auf die Straßen (hier am Sphinx-Platz in Kairo).

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Nahost-Experte Lüders: "Es ist nicht unwahrscheinlich, dass hier Kräfte des alten Regimes zum Schlag ausgeholt haben gegen Kräfte des neuen."

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Nach den gewaltsamen Ausschreitungen im Fußballstadion der nordägyptischen Stadt Port Said mit mindestens 74 Toten und mehr als 1.000 Verletzten sind weiterhin viele Fragen ungeklärt. Vor allem das Verhalten der Sicherheitskräft steht in der Kritik. Hat man die Ausschreitungen bewusst zugelassen? derStandard.at bat den Nahost-Experten Michael Lüders zum Telefoninterview.

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derStandard.at: Wie lassen sich die Geschehnisse in Port Said erklären?

Lüders: Die Einzelheiten sind noch nicht bekannt. Es gibt zwei Szenarien, die diskutiert werden und die sich wahrscheinlich überschneiden. Zum einen Schlamperei der Sicherheitskräfte und der Behörden, die nicht gewappnet waren für einen möglichen Großeinsatz gegen Hooligans. Zum anderen gibt es Vorwürfe, dass die Staatsmacht diese Krawalle vorsätzlich provoziert habe, um
abzurechnen mit der Revolution.

derStandard.at: Welche Rolle spielten die Ultras von Al-Ahli in der Revolution?

Lüders: Der Klub aus Kairo, Al-Ahli, der in Port Said spielte, gilt als einer der Anhänger des politischen Wandels in Ägypten. Es gibt ägyptische Kommentatoren, die sagen, dass hier ehemalige Handlanger des Regimes von Mubarak gewissermaßen die Pforten des Stadions geöffnet haben mit dem Ziel, Hooligans einzuschleusen, auf dass diese Jagd machen auf die Fans des Kairoer Klubs. Ob das am Ende stimmt, können wir zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht sagen.

derStandard.at: Welche Erkenntnisse sind gesichert?

Lüders: Was auf jeden Fall stimmt: Es war ein Totalversagen der Sicherheitskräfte zu beobachten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass hier Kräfte des alten Regimes zum Schlag ausgeholt haben gegen Kräfte des neuen. Aber wie gesagt: Das alles sind Spekulationen, es gibt noch keine gesicherten Erkenntnisse. Es gibt aber Indizien, so hat der Gouverneur von Port Said seine Teilnahme am Spiel im Zuschauerraum kurzfristig abgesagt, was normalerweise im höchsten Maß unüblich wäre. Möglicherweise hat man ihm einen Tipp gegeben, dass das blutig enden könnte.

derStandard.at: Die Muslimbrüder machen den alten Apparat von Ex-Präsident Mubarak für die Vorfälle verantwortlich.

Lüders: Die Muslimbrüder sind auf jeden Fall aus dem Schneider. Niemand wirft ihnen vor, dass sie damit zu tun hätten. Die Verantwortlichen in Port Said gehören nicht zum Umfeld der Muslimbrüder. So gesehen ist es aus Sicht der Muslimbruderschaft natürlich sinnvoll, sich von diesen Ereignissen zu distanzieren und auf Mubaraks alten Geheimdienstapparat zu zeigen. Die letzten Einzelheiten werden wir, wenn überhaupt, erst später erfahren. Es ist aber wirklich eine sehr ungute Mischung aus Schlamperei, Schlendrian einerseits und politischem Kalkül andererseits.

derStandard.at: Wie wird sich das neu gewählte Parlament verhalten?

Lüders: Das muss man abwarten. Ich gehe davon aus, dass das Parlament die Ausschreitungen verurteilen wird und sicherlich auch einen Untersuchungsausschuss einrichten wird, um die Hintergründe aufzuklären.

derStandard.at: Glauben Sie, dass es diese Chance zur Profilierung nützen könnte?

Lüders: Ich denke schon, dass man sich dazu äußern wird. Nach solch einem Ereignis mit über 70 Toten und über 1.000 Verletzten kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

derStandard.at: Hat der Militärrat wirklich ein Interesse daran, dafür zu sorgen, dass die Lage in Ägypten instabil bleibt?

Lüders: Es gibt sicherlich Kräfte im Militärrat, die Interesse daran haben, sich als Hüter von Recht und Ordnung zu profilieren. Aber genau diese Ordnung ist in Port Said jetzt zusammengebrochen. Insofern ist man in Kreisen des Militärs über diese Vorfälle sicher auch nicht glücklich. (flog, derStandard.at, 2.2.2012)