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"Quo vadis, Hungaria? Kritik der ungarischen Vernunft" ist der Titel der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Osteuropa, die sich schwerpunktmäßig mit den politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen in Ungarn auseinandersetzt. Gábor Halmai, Professor für Verfassungsrecht an der Eötvös-Lóránd-Universität in Budapest, unterzieht die neue Verfassung einer kritischen Analyse, und der ehemalige ungarische Kulturminister und Professor für Politologie an der Budapester Central European University, András Bozóki, leitet die aktuellen Entwicklungen aus einer Kombination aus nationalen Opfermythen und Größenwahn ab.

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit, unter Ausschluss der Opposition?

Halmai findet an der Verfassung nicht nur ihren Inhalt bemerkenswert, sondern auch ihren Entstehungsprozess, der, anders als es in einer Demokratie üblich ist, weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit und auch weitgehend unter Ausschluss der Opposition stattgefunden hat. Dass dies überhaupt möglich war, verdankt Regierungschef Viktor Orbán seiner Zweidrittelmehrheit im Parlament. Diese qualifizierte Mehrheit, die für die Änderung der Verfassung bzw. der sogenannten Kardinalsgesetze notwendig ist, hätte der Stabilität Ungarns dienen sollen. Derzeit dient sie jedoch dazu, Orbáns Politik auch nach einer Abwahl für lange Zeit festzuschreiben.

Einheitliche ungarische Nation

Darüber hinaus beinhaltet die im Schnellverfahren erarbeitete und beschlossene Verfassung auch eine Reihe von inhaltlichen Mängeln. Halmai meint: "Ein wichtiges Kriterium für eine demokratische Verfassung ist, dass jeder Bürger, der in ihrem Geltungsbereich lebt, sie als seine eigene betrachten können sollte. Das ungarische Grundgesetz verfehlt diese Anforderung in mindestens zweifacher Hinsicht. Zum Ersten definiert die Präambel mit der Überschrift 'Nationales Bekenntnis' als Subjekt der Verfassung nicht die Gesamtheit aller Menschen, die im Geltungsbereich ungarischen Rechts leben, sondern die ungarische 'Ethno-Nation'. [...] Gleichzeitig schließt sie jene Ungarn ein, die außerhalb der Landesgrenzen leben. Die Erhebung der 'einheitlichen ungarischen Nation' in den Rang des Verfassungssubjekts suggeriert, dass sich der Geltungsbereich des Grundgesetzes gewissermaßen auf das gesamte historische, vor-trianonische Ungarn erstreckt, mit Sicherheit aber die Orte einschließt, wo heute noch Ungarn leben."

Formelle und informelle Regeln

Bozóki kritisiert in seinem Artikel "Autoritäre Versuchung" ebenfalls die Abkehr Ungarns von demokratischen Verhältnissen. Er leitet die derzeitige Krise der ungarischen Demokratie aus dem Konsenszwang, der Informalität, der Partokratie, dem Scheitern der Wirtschaftsreformen und der Illusion der Stabilität ab. Er argumentiert, dass das Verhältnis Ungarns zur Demokratie auch in der Vergangenheit ein ambivalentes war, da es stets ein Misstrauen gegenüber jeder Form der Machtausübung gab. "Die Geschichte hatte die Ungarn gelehrt, die ihnen von den fremden Eroberern aufgezwungenen formellen Regeln nur scheinbar einzuhalten und unter der Oberfläche die Regeln und Kultur der informellen Gesellschaft aufzubauen. Die Dualität von formellen und informellen Regeln, die heikle Anpassung an sie, ihre Ambivalenz und trickreiche Ausnutzung hatten sich tief in das Verhaltensmuster der ungarischen Gesellschaft eingegraben. Man gab dem Kaiser, was des Kaisers war, Steuern zu zahlen vermied man jedoch tunlichst."

Bozóki betont, dass "die jetzige Krise der ungarischen Demokratie darauf verweist, dass die Demokratie nicht auf ihren institutionellen Rahmen eingeengt werden darf, denn Institutionen können leicht von Führern leergefegt werden, die das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit nicht respektieren". Dennoch sieht der Autor auch eine Chance in der gegenwärtigen Situation, denn "die Demokratie ist niemals ein für alle Mal vollendet, sie ist vielmehr ein dynamischer Prozess, ein labiles Gleichgewicht zwischen Kräften und Gegenkräften. Wenn die ungarische Demokratie dank gesellschaftlichen Widerstands die gegenwärtige autoritäre Herausforderung überlebt, stehen die Chancen gut, dass sie hernach stärker sein wird als je zuvor." (derStandard.at, 2.2.2012)