Martin Walde manipuliert in der Serie "Solvent Scale" dort, wo "Wahrheiten" bemessen und beziffert werden. 

Foto: Galerie Elisabeth & Klaus Thoman / Ulrich Ghezzi

Innsbruck - Um Farben geht es, um Manipulation, um einen erweiterten Skulpturenbegriff. Auf einem Podest aus gestapelten weißen Styroporplatten steht ein überdimensioniertes zentimeterdickes Glasgefäß, dessen Hals sich dem Boden zuneigt. Ein anderes, zwei Meter hohes Glasbehältnis baumelt wie ein schlaffer Luftballon von der Decke. Die Gefäßwände werfen tiefe Falten. Ein Dutzend solcher bizarr verformter Glasobjekte verteilen sich im Raum der Galerie Thoman.

Martin Walde (geb. 1957 in Innsbruck) hat für seine Ausstellung Solvent Scale die Skalen und Messeinheiten von industriellen Normgläsern verflüssigt und ihnen somit ihre ursprüngliche Funktion genommen. Die riesigen ballonartigen Retortengefäße und Destillationsanlagen, die er dafür bearbeitet, dienten der Herstellung und Rückgewinnung von Lösungsmitteln. Um das zentimeterdicke Industrieglas bearbeiten zu können, hat Walde sogar gemeinsam mit dem Glastechniker Bernd Weinmayer einen speziellen Brennofen gebaut: Wegen der hohen Schmelztemperatur und der zähen Fließeigenschaft ist es äußerst schwer zu verformen.

Diese Deformierung der Gefäße ist aber - das ist Walde wichtig - nicht Selbstzweck. Sondern lediglich die Begleiterscheinung bei seinem Anliegen, die Skalen zu verflüssigen. Schon in früheren Werkgruppen wie Hallucigenia oder Der Duft der verblühenden Alpenrose experimentierte Walde mit den Übergängen von Aggregatzuständen. Er macht sichtbar, dass Glas kein Feststoff, sondern eine Flüssigkeit ist.

Die zweite zentrale Arbeit der Ausstellung ist die eben erst von der Biennale in Moskau zurückgekehrte, zehnteilige Bilderserie Dandelion - Löwenzahn. Eine blühende Löwenzahnwiese mag zwar berückend wirken, ist jedoch die Folge überdüngter Böden. Die Landschaft wurde gewissermaßen mit Löwenzahn überschrieben.

Ausgangspunkt von Waldes Arbeit ist das Foto einer Löwenzahnwiese, das er mit abgeänderten Sinnsprüchen und Lebensweisheiten überschreibt. Etwa: "Ein Löwenzahn wächst selten allein." Oder: "Du bist der Löwenzahn in der Wiese des Lebens." Der Text ist so dicht gesetzt, dass er unleserlich ist. Er verstärkt lediglich das Gelb des Löwenzahns und stellt so eine Parallele zum unsichtbaren Dünger her.

In weiteren Schritten reproduziert und digitalisiert Walde das Bild, er retuschiert die Schrift mit farbiger Tusche und überschreibt es immer wieder neu. Das fotografische Abbild löst sich im Laufe des Prozesses auf. (Dorothea Nicolussi-Salzer, DER STANDARD - Printausgabe, 2. Februar 2012)