Hunderte Insassen des Militärgefängnisses von Misrata kauern auf einfachen Matten und lauschen einem Prediger. Nur wenige bewaffnete Wächter stehen am Tor. Spezielle Sicherheitsvorkehrungen gibt es nicht, auch keine unterschiedliche Behandlung der Gefangenen; egal ob Polizist, Soldat oder Offizier. Die Gefangenen bewegen sich frei, schlafen in sauberen Massenunterkünften und erhalten drei Mahlzeiten pro Tag.

Auf den ersten Blick ist nicht auszumachen, wer Insasse und wer Wächter ist, etwa in den Räumen der von Ärzte ohne Grenzen aufgebauten Krankenstation. Die Hilfsorganisation hat Gefangene in Krankenpflege ausgebildet. Ein junger Häftling betätigt sich sogar als Physiotherapeut. Der Umgangston ist würdevoll, manchmal fast freundschaftlich.

Direktor des Gefängnisses ist Scheich Fathi Abdel Salam Daras. Der 37-jährige trägt Uniform und einen langen Bart. Er zitiert den Koran, der das Barttragen zur Pflicht macht. Auch die 65 Helfer sind so als gläubige Muslime auszumachen. Der Islam verpflichte sie, respektvoll mit Gefangenen umzugehen. Und religiöse Unterweisung sei auch das Rezept, um Ruhe und Ordnung zu garantieren, betont der Scheich.

Seit Mai führt Fathi dieses Gefängnis, vor dem Krieg war er Geschäftsmann. Geld vom Nationalen Übergangsrat erhält es nicht. Der gesamte Aufwand wird durch Spenden finanziert. Die Gefangenen werden vom Militärrat geschickt und zu Verhören abgeholt. Es gibt keine richterlichen Untersuchungen, der Militärrat entscheidet über Haft oder Freiheit.

Bei ihrer Rückkehr von Verhören trugen mehrere Häftlinge Spuren von Folter. Ärzte ohne Grenzen zählte in kurzer Zeit 115 Fälle und machte diese Übergriffe publik. Die Organisation stellte aus Protest auch die Arbeit in diesem Gefängnis ein. Der Protest sei aber nicht gegen Fathi gerichtet gewesen, dessen Arbeit anerkannt werde, sondern gegen die Verantwortlichen für die Folter, betont Claudia Evers, Sprecherin von Ärzte ohne Grenzen.

Der Gefängnisdirektor zeigte sich froh, dass die Missstände öffentlich gemacht wurden - wer foltert, weiß er nicht oder will es nicht sagen.

Die Foltervorwürfe sorgten im Ausland für Schlagzeilen und blieben auch in Libyen nicht ohne Wirkung. Der stellvertretende Premier Mustafa Abushagur erklärte, im neuen Libyen dürfe es keine Menschenrechtsverletzungen geben. Er trat damit auch jenen Landsleuten entgegen, die solche Übergriffe im Vergleich mit den Gräueln des Gaddafi-Regimes als harmlos und entschuldbar abtun.

Nun sei ein Rundbrief mit Regeln für die Behandlung von Gefangenen verschickt worden; alle Vorwürfe würden untersucht, betonte Abushagur und kündigte zudem an, dass das Innenministerium schon in Kürze die Verantwortung für alle Gefängnisse übernehmen werde. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.2.2012)