Der Schweizer Markus Brunner ist Stipendiat am IFK.

Foto: privat

Eigentlich wollte Markus Brunner nach Wien gehen, um an der Akademie der bildenden Künste seine Doktorarbeit über Selbstverletzungen als Teil künstlerischer Performances zu schreiben. Der gebürtige Schweizer hatte sich bereits in mehreren Publikationen mit körperlicher Kunst, etwa jener der Wiener Aktionisten oder des australischen Cyborg-Performers Stelarc, auseinandergesetzt.

Dann jedoch verlegte er sich kurzerhand auf das zweite Thema, das ihn schon seine ganze Studienzeit lang gefesselt hatte: die Rede von "kollektiven Traumata". "Die Entscheidung war pragmatisch", begründet der 32-Jährige den Wechsel, "für dieses Thema war es leichter, Stipendien zu bekommen."

Nach einem Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds untersucht Brunner seit Oktober als Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien, wie traumatische Erlebnisse nicht nur vom Einzelnen, sondern von ganzen Gesellschaften verarbeitet werden. "Es gibt kein Konzept für den Begriff des kollektiven Traumas", betont er. "Obwohl er sehr oft verwendet wird, für erschütternde Ereignisse wie 9/11 und die Ermordung Kennedys genauso wie für den Holocaust."

Die Abgründe und Kehrseiten der Gesellschaft, dahinterliegende Herrschafts- und Machtverhältnisse haben Brunner schon immer in den Bann gezogen. Beim Soziologiestudium in Zürich fehlte ihm die theoretisch-kritische Perspektive. Diese fand er an der Leibniz-Universität Hannover, wo er sich in das Feld der politischen Psychologie vertiefte. "Leider wurde die psychoanalytisch ausgerichtete Sozialpsychologie, die eine lange Denktradition hat, mittlerweile aus den Unis vertrieben", bedauert Brunner. Dem widersetzt sich die umtriebige Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie, der Brunner angehört.

Zur Hannoveraner Forschungstradition gehörten auch die verschiedenen Dimensionen der Auswirkungen des Nationalsozialismus. "Um die Jahrtausendwende entstand in Deutschland eine neue Opferdebatte, in der suggeriert wurde, dass die meisten Deutschen traumatisiert wurden, sei es durch die Luftangriffe der Alliierten oder durch Fronterfahrungen", erläutert Brunner die Motivation für sein Forschungsprojekt. "Mich irritierte, dass sämtliche Kriegserfahrungen unter dem Traumabegriff zusammengefasst wurden. Somit wurden schwierige Parallelen zu den Leiden der KZ-Häftlinge gezogen, anhand deren viele traumatheoretische Erkenntnisse ursprünglich gewonnen wurden."

Um die Begrifflichkeiten zu schärfen und herauszuarbeiten, wie individuelle Erlebnisse kollektiv verarbeitet werden, unterzieht Brunner die vorhandene Traumaforschung einer Neulektüre und versucht ein Instrumentarium zu entwickeln, das auch den jeweiligen Kontext miteinbezieht. "Es hat sich gezeigt, dass sich während des Bombenkriegs die antisemitische Gewalt verstärkt hat, was möglicherweise auch ein Mittel der Traumaverarbeitung war", gibt Brunner ein Beispiel.

In Wien halten Brunner nicht nur private Bande, sondern auch ein Lehrauftrag an der SigmundFreud-Privatuniversität. Dennoch kann er sich gut ein Auslandsjahr vorstellen, etwa in Buenos Aires, denn: "Dort soll die politische Sozialpsychologie noch einen hohen Stellenwert haben." (DER STANDARD, Printausgabe, 01.02.2012)