Aktivität und die Kraft zu lieben: Aharon Appelfeld im Jahr 2004 in Wien.

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Wien - Schreiben, notierte Max Frisch in sein Tagebuch, heiße sich selber lesen. Ganz ähnlich, nämlich als Selbstgespräche, sieht auch der 1932 in der Bukowina geborene israelische Autor Aharon Appelfeld seine mehr als 40 Romane und Erzählbände.

Der Glanz, den seine Prosa trotz düsteren zeitgeschichtlichen Hintergrunds ausstrahlt, verdankt Appelfelds Werk vor allem der Erinnerung an die ersten acht als behütetes Einzelkind einer jüdischen Familie in Czernowitz zugebrachten Lebensjahre. Dann, 1941, erschossen die deutschen Besatzer die Mutter; Vater und Kind wurden deportiert, nur dem Sohn gelang die Flucht. Er überlebte als Handlanger von Schmugglern und Prostituierten, schloss sich der vorrückenden Roten Armee an und schlug sich 1946 nach Neapel durch, wo er sich nach Palästina einschiffte.

Seit seinem literarischen Debüt 1962 schreibt Appelfeld in seinem von wiederkehrenden Motiven durchzogenen Werk am selben autobiografisch grundierten Buch, das von der Erinnerung an eine zersplitternde Welt und an verschwundene Menschen handelt, aber auch von jüdischer Identität - und von Heimat, der verlorenen alten und der neuen, die es auf sandigem Boden aufzubauen gilt.

Die neue Welt

Buch um Buch, Mosaikstein um Mosaikstein arbeitet Appelfeld an einem Bild, in dessen Zentrum eine wortlose Leerstelle klafft. Um dieses Schweigen herum, das Schlimmste lässt dieser Autor immer aus, ist Appelfelds Schreiben aufgebaut. Auch in seinem nun in deutscher Übersetzung erschienen Roman Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen (Rowohlt Berlin), in dem ein Junge vom Schlaf ins Leben und vom Schweigen ins Schreiben findet.

Über viele Wochen und zahlreiche Stationen haben die Flüchtlinge den schlafenden Jungen von Osteuropa bis nach Italien getragen. Ab und zu schoben sie ihm etwas zu essen in den Mund, manchmal wurde er irgendwo vergessen, doch immer ging einer zurück, um ihn weiterzutragen. Am Strand von Neapel fragt einer der Flüchtlinge, die ihn wie eine Last mit sich schleppten, warum er sich "mit aller Kraft an den Schlaf geklammert" habe.

"Was hat man dir im Schlaf gezeigt?", fragt er. "Ich weiß es noch nicht, sagte ich und meinte es auch so. (...). Wann wirst du es wissen? Wenn es so weit ist, sagte ich, denn ich hatte keine anderen Worte." Immer wieder wird der Ich-Erzähler, der am selben Tag wie Appelfeld geboren ist und wie der Autor ursprünglich Erwin, später Aharon heißt, in tiefen Schlaf fallen, der ihn in eine eigene Welt führt. Es ist - auch - die Welt der Toten, der Eltern, die den verlorenen Sohn begleiten.

Dieser schließt sich im Auffanglager in Neapel mit anderen Jungen dem Ausbildner Efrajim an, es wird körperlich trainiert, Hebräisch gelernt, mit Werkzeugen und Waffen geübt. Bald wird man sich nach Palästina einschiffen. Dort geht, während Terrassen und Plantagen angelegt werden, die militärische Ausbildung weiter. Noch vor der isrealischen Unabhängigkeitserklärung 1948 und der Ausrufung des Staates Israel beginnen die Scharmützel rund um den Kibbuz. In der allerersten Kampfhandlung wird der Erzähler schwer verletzt, es folgt eine Serie von Operationen. Zweieinhalb Jahre verbringt er in Sanatorien und Krankenhäusern, er schreibt die Bibel ab, taucht in die Tiefen der neuen Sprache, des Hebräischen, ein - und entschließt sich, Schriftsteller zu werden.

Am Schluss des 70 kurze episodenhafte Kapitel umfassenden Romans gelingen dem Erzähler die ersten geschriebenen Sätze. Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen ist allerdings weit mehr als die Geschichte einer Schriftstellergeburt. Denn die Folien, vor denen Appelfeld den Roman in einfacher, auch in der deutschen Übersetzung von Mirjam Pressler melodischer Sprache aufspannt, sind der israelische Unabhängigkeitskrieg und die Bruchlinien, welche das Zusammentreffen von altem (europäischem) und neuem Judentum in Israel aufwerfen.

Viele Freunde des Erzählers kommen als Versehrte aus dem Palästinakrieg zurück. Ihnen hat Appelfeld im Roman warmherzige Porträts gewidmet, Marek etwa, der in den Freitod geht und dessen Schweigen ein erstarrtes Sprechen war. Oder Eduard, dessen Aussehen den Mädchen gefiel, "doch seine Naivität mochten sie nicht". Er verliert im Palästinakrieg, dessen Schrecken immer lautlos präsent ist, einen Arm.

Wer seine kindliche Naivität verliere, sagte Appelfeld in einem Interview, "kann kein Künstler sein. Ein Denker, ein Forscher, ein Journalist - ohne weiteres. Aber im Künstler muss immer das Kind fortleben", was nicht heißt, die Augen vor der Realität zu verschließen. Im Gegenteil, es gilt sie offenzuhalten. Es ist ein Unbekannter, der im Roman den Jungen mit Hoffnung und Essen versorgt. Er hinterlässt dem Schlafenden in Neapel einen Zettel. "Guten Morgen, junger Freund. Ich verlasse in dieser Nacht das Lager (...). Ich wünsche dir ein gutes Erwachen und ein waches Leben, Aktivität und die Kraft zu lieben." Appelfeld, der am 16. Februar seinen 80. Geburtstag feiert, hat an dieser Kraft festgehalten. (Stefan Gmünder, DER STANDARD - Printausgabe, 24. Jänner 2012)