Mit mehr als zwei Millionen verkauften Büchern ist Daniel Glattauer (51) Österreichs erfolgreichster Schriftsteller.

Foto: STANDARD/Heribert Corn

Buchpräsentation: Alexandra Föderl-Schmid im Gespräch mit Daniel Glattauer über seinen neuen Roman: 2. Februar, 19.30 Uhr im Wiener Odeon.

Cover: Deuticke

Eine Liebesgeschichte, die zum Psychothriller wird. Ein Vorabdruck.

1. Als er in ihr Leben trat, verspürte Judith einen stechenden Schmerz, der gleich wieder nachließ. Er: "Verzeihung." Sie: "Macht nichts." Er: "Dieses Gedränge." Sie: "Ja." Judith überflog sein Gesicht, als wären es die täglichen Sportschlagzeilen. Sie wollte nur eine Ahnung davon haben, wie jemand aussah, der einem am Gründonnerstag in der überfüllten Käseabteilung die Ferse abhackte. Sie war wenig überrascht, er sah normal aus. Er war einer wie alle hier, nicht besser, nicht schlechter, nicht origineller. Warum musste die gesamte Bevölkerung zu Ostern Käse kaufen? Warum im gleichen Kaufhaus zur selben Stunde?

Bei der Kassa legte er, schon wieder er, neben ihr die Waren auf das Förderband. Sie registrierte ihn dank eines einschlägig riechenden rostbraunen Raulederjackenärmels. Sein Gesicht hatte sie längst vergessen, nein, sie hatte es sich gar nicht erst gemerkt, aber die geschickten, gezielten und dabei geschmeidigen Bewegungen seiner Hände gefielen ihr. Es wirkte ja auch noch im 21. Jahrhundert wie ein Wunder, wenn ein Mann um die vierzig im Supermarkt zu-, aus- und einpackte, als hätte er es vorher schon einmal getan.

Beim Ausgang war es beinahe kein Zufall mehr, dass er wieder dort stand, um ihr die Tür aufzuhalten und um mit seinem Langzeitpersonengedächtnis zu brillieren. Er: "Nochmals Verzeihung für den Tritt." Sie: "Ach, längst vergessen." Er: "Nein, nein, ich weiß, so was kann höllisch wehtun." Sie: "So schlimm war es nicht." Er: "Gut, gut." Sie: "Ja." Er: "Na dann." Sie: "Ja." Er: "Schöne Feiertage." Sie: "Ihnen auch." Sie liebte Gespräche dieser Art im Kaufhaus, das sollte jetzt aber für immer genügen.

Ihre vorerst letzten Gedanken an ihn galten seinen fünf bis sieben oder acht Bananen, der gelben Riesenstaude, die er vor ihren Augen eingepackt hatte. Wer fünf bis sieben oder acht Bananen kaufte, hatte bestimmt zwei bis drei oder vier hungrige Kinder daheim. Unter der Lederjacke trug er wahrscheinlich einen Pullunder mit großen Karos in Regenbogenfarben. Er war so ein richtiger Familienvater, dachte sie, einer, der für vier bis fünf oder sechs Personen Wäsche wusch und zum Trocknen aufhängte, die Socken vermutlich alle in einer Reihe, paarweise geschlichtet, und wehe, es brachte jemand seine Ordnung auf der Wäscheleine durcheinander.

Daheim klebte sie sich ein dickes Pflaster auf die rote Ferse. Zum Glück war die Achillessehne nicht gerissen. Sonst fühlte sich Judith ohnehin unverwundbar.

2.

Ostern verlief wie immer. Samstagvormittag: Besuch bei der Mama. Mama: "Wie geht es Vater?" Judith: "Ich weiß es nicht, ich bin am Nachmittag bei ihm." Samstagnachmittag: Besuch beim Vater. Vater: "Wie geht es Mama?" Judith: "Gut, ich war am Vormittag bei ihr." Sonntagmittag: Besuch bei Bruder Ali auf dem Land. Ali: "Wie geht es Mama und Vater?" Judith: "Gut, ich war gestern bei ihnen." Ali: "Sie sind wieder zusammen?"

Am Ostermontag waren Freunde bei ihr zum Essen geladen. Eigentlich nur am Abend, aber bereits nach dem Aufstehen hatte sie darauf hingearbeitet. Sie waren zu sechst: zwei Paare, zwei Singles (einer davon ein ewiger, der andere – sie selbst). Zwischen den Gängen gab es niveauvolle Gespräche, hauptsächlich über vitaminschonende Garmethoden und neueste Entwicklungen in der Weinsteinbekämpfung. Die Gruppe war homogen, phasenweise sogar verschworen (gegen Krieg, Armut und Gänsestopfleber). Der frisch aufgehängte Jugendstilluster sorgte für warmes Licht und freundliche Gesichter. The Divine Comedy hatten rechtzeitig für den Anlass ihre aktuelle CD auf den Markt gebracht.

Ilse lächelte ihrem Roland sogar einmal zu, er massierte ihr zwei Sekunden die rechte Schulter – und das nach dreizehn Ehejahren und zwei Kindern in jenem Köcher, aus dem täglich Antileidenschaftspfeile verschossen werden. Das andere, jüngere Paar, Lara und Valentin, war noch in der Händchenhalteperiode. Hin und wieder umklammerte sie seine Finger mit beiden Händen, vielleicht um ihn fester zu halten, als es ihr auf Dauer gelingen würde. Gerd war natürlich wieder der Witzigste, ein großer Gesellschaftstiger, der mit der Aufgabe, spröde Menschen lockerer und mutiger im Wort zu machen, wuchs. Leider war er nicht schwul, sonst hätte Judith ihn gerne auch öfter alleine getroffen, um ihm persönlichere Dinge anzuvertrauen, als dies in einer Gruppe mit Pärchen möglich war.

Am Ende solcher Abende, wenn die Gäste abgezogen waren und nur noch Dunstwolken an sie erinnerten, testete Judith immer, wie es ihr ging, so im vertrauten Rahmen mit sich und Bergen von benütztem Geschirr. Oh doch, es war schon die deutlich höhere Lebensqualität, eine Stunde Küchendienst zu versehen, die Fenster aufzureißen und Frischluft ins Wohnzimmer zu lassen, tief durchzuatmen, noch schnell eine präventive Kopfschmerztablette einzuwerfen, dann endlich den geliebten Polster zu umarmen und ihn erst um acht Uhr morgens wieder freizugeben. Das war eindeutig besser, als in die Psyche eines vermutlich (ebenfalls) betrunkenen, chronisch schweigsamen, für private Sperrstunden nicht geschaffenen, aufräumungsarbeitsunwilligen "Partner" dringen zu müssen, um auszuloten, ob er sich Hoffnungen machte oder Befürchtungen hegte, es könnte sich noch Sex ergeben. Diesen Stress ersparte sich Judith. Nur in der Früh, da fehlte er manchmal, der Mann neben ihr unter der Decke. Aber es durfte halt nicht irgendeiner sein, nicht einmal ein gewisser, nur ein bestimmter. Und deshalb konnte es leider keiner sein, den sie bereits kannte.

3.

Judith ging gern in die Arbeit. Und wenn nicht, wie so gut wie immer nach Feiertagen, dann betrieb sie jeden nur erdenklichen Aufwand, es sich einzureden. Immerhin war sie ihre eigene Chefin, auch wenn sie sich mehrmals täglich eine andere, nachlässigere wünschte, zum Beispiel ihr Lehrmädchen Bianca, die nur einen Spiegel brauchte, um vollbeschäftigt zu sein. Judith führte ein kleines Unternehmen in der Goldschlagstraße im fünfzehnten Bezirk. Das klang zwar unternehmerischer, als es war, aber sie liebte ihr Lampengeschäft, mit keinem Lokal der Welt wollte sie es tauschen. Schon in der Kindheit waren dies die schönsten Räume auf Erden, voll glitzernder Sterne und funkelnder Kugeln, stets hell erleuchtet, immerzu festlich. In Opas glänzendem Freilichtmuseum ließ sich täglich Weihnachten feiern.

Mit fünfzehn fühlte sich Judith wie im goldgelben Käfig, beim Hausaufgabenmachen von Stehlampen überwacht, bis in die intimsten Tagträume von Wand- und Deckenlustern ausgeleuchtet. Ihrem Bruder Ali war es zu hell, er verweigerte sich dem Licht und zog sich in Dunkelkammern zurück. Mama kämpfte verbissen gegen den Konkurs und ihre eigene erdrückende unternehmerische Unlust. Vater zog bereits schummrigere Lokale vor. Die beiden hatten sich im guten Einvernehmen getrennt. "Gutes Einvernehmen" war der grausamste Ausdruck, den Judith kannte. Er hieß, Tränen auf lachend nach oben gekrümmten Lippen trocknen und versteinern zu lassen. Irgendwann wurden einem die Mundwinkel so schwer, dass sie absackten und für immer unten blieben wie bei Mama.

Mit dreiunddreißig übernahm Judith das marode Lampengeschäft. In den vergangenen drei Jahren hat es wieder zu funkeln begonnen, nicht so schillernd wie zu Opas Glanzzeiten, aber Verkauf und Reparatur liefen gut genug, um Mama dafür zu entlohnen, dass sie daheimblieb. Das war das eindeutig beste Einvernehmen, in dem sich Judith bisher von irgendjemandem getrennt hatte.

Der Dienstag nach Ostern verging für sie bei außergewöhnlich ruhigem Geschäftsgang hauptsächlich im Hinterzimmer unter dem matten Licht der Bürolampe und war reine Pflichtübung, die ihr die Buchhaltung vorschrieb. Von Bianca hörte man zwischen acht und sechzehn Uhr nichts, wahrscheinlich schminkte sie sich gerade. Um zu beweisen, dass sie an diesem Tag jedenfalls anwesend war, schrie sie knapp vor der Sperrstunde plötzlich: "Frau Cheeeefin!" Judith: "Bitte! Nicht so laut! Kommen Sie her, wenn Sie mir was sagen wollen." Bianca, jetzt neben ihr: "Da ist ein Mann für Sie." Judith: "Für mich? Was will er?" Bianca: "Guten Tag sagen." Judith: "Ah."

Es war der Bananenmann. Judith erkannte ihn erst am Inhalt seiner Worte. Er: "Ich wollte Ihnen nur guten Tag sagen. Ich bin der, der Ihnen vor Ostern im Merkur auf die Ferse gestiegen ist. Ich hab Sie in der Früh hier hineingehen gesehen. " Judith: "Und da haben Sie bis jetzt darauf gewartet, dass ich wieder herauskomme?" Sie kicherte unabsichtlich. Sie hatte das Gefühl, gerade ziemlich witzig gewesen zu sein. Auch der Bananenmann lachte, sehr schön sogar, mit zwei funkelnden, von hundert kleinen Fältchen umsäumten Augen und ungefähr sechzig strahlend weißen Zähnen. Er: "Ich hab hier nur ein paar Ecken weiter mein Büro. Da dachte ich ..." Sie: "Sie sagen guten Tag. Das ist nett. Mich wundert, dass Sie mich erkannt haben." Das hatte sie überhaupt nicht kokett, sondern völlig ernst gemeint. Er: "Das braucht Sie wirklich nicht zu wundern." Jetzt sah er sie seltsam an, seltsam verklärt für einen Familienvater mit acht Bananen. Nein, das waren nicht die Momente, mit denen Judith etwas anzufangen wusste. Unter den Wangen wurde ihr heiß. Sie musste noch dringend einen Anruf erledigen, erkannte sie an den Zeigern ihrer Armbanduhr. Er: "Na dann." Sie: "Ja." Er: "Hat mich sehr gefreut." Sie: "Ja." Er: "Vielleicht sieht man sich wieder." Sie: "Wenn Sie einmal eine Lampe brauchen." Sie lachte, um die Situationstragik ihrer Bemerkung zu überlagern. Bianca kam dazu, diesmal zum günstigsten aller Zeitpunkte. "Darf ich, Frau Chefin?" Sie meinte, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. Auch für den Bananenmann war das das Signal zum Aufbruch. Bei der Tür drehte er sich noch einmal um und winkte wie am Bahnhof, aber nicht wie zum Abschied, sondern wie einer, der jemanden abholte.

4.

Am Abend dachte Judith ein paar Mal flüchtig an ihn, nein, nicht flüchtig, aber an ihn. Wie hatte er gesagt? "Das braucht Sie nicht zu wundern." Oder hatte er sogar gesagt: "Das braucht Sie wirklich nicht zu wundern?" Und hatte er dabei nicht "Sie" betont? Doch, er hat "Sie" betont. Er hat gesagt: "Das braucht SIE wirklich nicht zu wundern." SIE im Sinne von: "So eine Frau wie Sie." Nett, irgendwie, dachte Judith. Er hat vielleicht sogar gemeint: "Das braucht SIE, eine Frau, die so aussieht wie Sie, eine so schöne, interessante Frau", hat er gemeint, "so eine wunderschöne Frau, so eine atemberaubend schöne, intelligent aussehende, kluge, coole Frau, ja so eine Frau wie SIE", hat er gemeint, "so eine Frau braucht das wirklich nicht zu wundern", dass er sie erkannt hat. Sehr nett, irgendwie, dachte Judith.

"So eine Frau wie Sie", hat er nämlich gemeint, "so eine Frau, die sieht man einmal", zum Beispiel wenn man ihr gerade in der Käseabteilung die Ferse zertrümmert hat, "die sieht man einmal, und man kriegt sie nie wieder aus dem Sinn und schon gar nicht aus den Sinnen", hat er gemeint. Eigentlich sehr, sehr nett, irgendwie, dachte Judith.

Sie wollte schon aufhören, daran zu denken, weil sie keine zwanzig mehr war, weil sie die Männer kannte und nicht mehr so leicht bereit war, in ihren Vorstellungen vom Plural abzuweichen, und weil sie bei Gott Wichtigeres zu tun hatte, weil sie gerade die Kaffeemaschine entkalken wollte, aber einmal dachte sie noch daran, nur ganz kurz, wie er das »Sie« betont hat, das »Sie« von »Das braucht SIE wirklich nicht zu wundern«. War es das »Sie« von »So eine Frau wie Sie«? Oder klang es nicht noch spezifischer und gewählter nach »Sie«, im Sinne von: »SIE. SIE. JA SIE! Einzig und alleine SIE.« Dann hat er wohl gemeint: »Jede Frau der Welt hätte das wundern dürfen, jede, nur nicht SIE, denn SIE, Sie sind nicht nur keine Frau wie alle anderen, nein, Sie sind eine Frau wie keine andere. Und SIE, SIE, JA SIE! Einzig und alleine SIE«, hat er gemeint, "braucht das wirklich nicht zu wundern", dass er sie erkannt hat. Eigentlich sehr, sehr nett, ja sehr sogar, dachte Judith. Doch leider, daran war nicht zu rütteln: Es HAT sie tatsächlich gewundert, dass er sie erkannt hat. Und darum ging es. Und deshalb entkalkte sie jetzt die Kaffeemaschine.

Am nächsten Tag kam er ihr nur noch ein einziges Mal, zwangsläufig, in den Sinn. Bianca behaupte-te plötzlich: "Frau Chefin, ich hab was bemerkt." Judith: "Echt? Da bin ich aber neugierig." Bianca: "Der Mann steht volle auf Sie." Judith, und das war hohe Schauspielkunst: "Welcher Mann?" Bianca: "Na, der große, der das Büro in der Nähe hat, der guten Tag gesagt hat, der hat Sie bitte volle arg angeschaut." Bianca schaukelte mit ihrem Kopf und ließ ihre hübschen dunklen Pupillen ein paar Runden kreisen. Judith: "Geh, Blödsinn, das bilden Sie sich ein." Bianca: "Das bilde ich mir bitte überhaupt nicht ein! Der ist volle verliebt in Sie, Chefin! Checken Sie das nicht?" Das war laut und unverschämt, aber ausgerechnet Bianca konnte sich bei ihr so etwas leisten, denn sie hatte keine Ahnung, dass sie es sich leisten konnte, sie tat es einfach. Judith schätzte ihre respektlose, reflexartige Aufrichtigkeit. Aber natürlich lag das Mädchen in diesem Fall vollkommen falsch. Der Mann stand nämlich überhaupt nicht auf sie, so ein Blödsinn, Lehrmädchenfantasien. Er kannte sie ja gar nicht, nur die Ferse, sonst nichts von ihr, absolut nichts.

5.

Am Sonntag feierten sie Gerds vierzigsten Geburtstag, im Iris, einem schummrig beleuchteten Lokal, das ihn zehn Jahre jünger wirken lassen sollte. Gerd war beliebt. Von den fünfzig geladenen Gästen kamen achtzig. Zwanzig von ihnen wollten nicht generell auf Sauerstoff verzichten und übersiedelten deshalb, bei aller Wertschätzung für Gerd, in die benachbarte Phoenix-Bar, die dank eines Live-Klavierspielers beinahe leer war. Judith war eine von ihnen.

Als überaus anhänglich erwies sich ein bedeutungslos gewordener Mann von erfreulich viel früher, Jakob hieß er, schade, dass dieser schöne Name nun ewig sein Gesicht tragen würde. Mit ihm war eigentlich längst alles besprochen (oder ausgeschwiegen). Nach drei Jahren zwischenmenschlicher Beziehung, und mehr als dazwischen war sie nie, hatte sich Judith gezwungen gesehen, selbige zu beenden. Der Grund: Jakob hatte eine hartnäckige Lebenskrise – namens Stefanie, die er bald danach heiratete.

Aber das lag schon sechs Jahre zurück, und deshalb war Jakob an jenem Samstagabend im Phoenix wieder objektiv genug, zu bemerken, dass es keine schöneren Lippen gab als jene Judiths. Diese formten sich sogleich zur Frage: "Und was ist mit Stefanie?" Jakob: "Stefanie?" Der Name schien ihm in diesem Zusammenhang sehr weit hergeholt. Judith: "Warum ist sie nicht hier?" Jakob: "Sie ist zu Hause geblieben, sie macht sich nicht viel aus solchen Festen." Wenigstens war sie daheim nicht allein, Felix (4) und Natascha (2) unterhielten sie sicher gut. Judith bestand darauf, Fotos von den Kleinen zu sehen, wie sie jeder halbwegs bekennende Papa in der Brieftasche mitführte. Jakob wehrte sich eine Weile, zeigte die Bilder aber schließlich her. Danach war er entspannt genug, nach Hause zu gehen.

Judith wollte sich gerade einer an der Bar gegründeten Kriseninterventionsgruppe im Kampf gegen die globale Erwärmung zuwenden, da tippte ihr jemand, unangenehm kurz und punktuell, von hinten auf die Schulter. Sie drehte sich um und erschrak. Das war ein Gesicht, das nicht hierhergehörte. "So eine Überraschung", sagte der Bananenmann. Judith: "Ja." Er: "Ich dachte noch, ist sie es, oder ist sie es nicht?" Judith: "Ja." Sie meinte, sie war es. Und sie fühlte sich in beklemmender Weise und unter heftigen Herzschlägen dabei erwischt. Jetzt half nur noch eines, jetzt musste sie reden. "Was machen SIE hier? Ich meine, was führt Sie hierher? Kennen Sie Gerd? Gehören Sie auch zum Geburtstagsfest? Sind Sie öfter hier? Sind Sie Stammkunde? Spielen Sie Klavier? Sind Sie der neue Pianist?" Einige dieser Fragen stellte sie, andere dachte sie nur. Darunter auch: "Haben Sie mich hier hineingehen gesehen?" Und: "Wollten Sie mir nur guten Tag sagen?"

Nein, er war mit zwei Kolleginnen hier, erklärte er. Sie saßen ein paar Meter weiter an einem runden Tisch im gelben Licht eines zu tief hängenden wuchtigen Lampenschirms aus den Achtzigerjahren. Er zeigte hin, sie winkten her, Judith nickte ihnen zu. Sie sahen zweifelsfrei nach Kolleginnen aus, kolleginnenhafter als die beiden konnte man eigentlich gar nicht aussehen. Wahrscheinlich war es der monatliche Jour fixe einer Steuerberaterkanzlei, aufgelockert durch flotte Barpianomusik.

Der Bananenmann hieß Hannes Berghofer oder Burghofer oder Burgtaler oder Bergmeier, hatte eine große, warme rechte Handinnenfläche und einen derart durchdringenden Blick, dass sich sogar Judiths Nieren davon berührt fühlten. Sie spürte wieder, wie ihre Wangen von innen nach außen heiß wurden. Und dann sagte er auch noch: "Ich freue mich, Sie so oft zu sehen. Wir scheinen momentan irgendwie im gleichen Rhythmus zu leben." Und dann fragte er auch noch: "Wollen Sie sich ein bisschen zu uns setzen?" Da musste Judith leider passen. Sie wollte nämlich gerade das Lokal wechseln, weil drüben im Iris das eigentliche Geburtstagsfest ihres Freundes, also ihres guten Bekannten Gerd stattfand. "Aber ein andermal gerne", sagte sie, was immer ihr dabei eingefallen sein mochte. So offensiv war sie schon lange nicht gewesen.

"Vielleicht darf ich Sie ja ein-mal auf einen Kaffee einladen", meinte daraufhin Berghofer oder Burghofer oder Burgtaler oder Bergmeier. "Ja, warum nicht", erwiderte Judith, weil es auch schon egal war. Die Hitze hatte nun die äußerste Schicht ihrer Wangen erreicht. Sie musste jetzt wirklich gehen. Er: "Gut, gut." Sie: "Ja." Er: "Na dann." Sie: "Ja." Er: "Und was den Kaffee betrifft, da komme ich einfach irgendwann bei Ihnen im Geschäft vorbei, wenn es recht ist." Sie: "Ja, tun Sie das." Er: "Ich freue mich." Sie: "Ja." (DER STANDARD/ALBUM – Printausgabe, 21./22. Jänner 2012)