"Die politische Karikatur führt heute mit beispielhafter Ethik in Zonen der Kampfansage und der Nachdenklichkeit", sagt Keim.

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Standard: Welche Funktion hat eine politische Karikatur?

Keim: Politische Karikaturen sind zugleich Kritik und Ermutigung, Mahnung und Hoffnung. Sie stellen fest und bloß. Sie adeln und tadeln. Sie verkleiden und entkleiden. Sie provozieren, brüskieren, demaskieren. Sie liefern emotionale Lineamente und intellektuelle Ergebnisse. Für mich sind sie moralische Instanzen mit der Liebe zur Wahrheit. Mein Fazit: Karikaturisten sprechen die "ureigenste Sprache der Zeit", wie Eduard Fuchs sagt, sie fordern und fördern kritische Selbsterkenntnis und Mitverantwortung, bringen die Leute zugleich zum Sehen, Nachdenken und manchmal auch zum Umdenken. "Unsere Kunst", erläutert die in Strausberg bei Berlin lebende Karikaturistin Barbara Henniger, "ist nun einmal nicht zum Ausschmücken da, wir malen keine Ornamente und Arabesken um das Leben. Wir fordern es heraus. Das Geheimnis aller Kreativität ist doch, sich durch Schwierigkeiten herausfordern zu lassen. Nur so ist der Schöpfergeist aufgerufen, Lösungen zu finden". Und dabei, schreibt der Karikaturenforscher Georg Ramseger, "erkennt die Karikatur ihren Mann, seine Lüge, seine Wahrheit. Sie liefert das eigentliche Abbild der tausendfach getarnten Wirklichkeit."

Standard: Welchen Stellenwert hat die politische Karikatur als spezielle journalistische Form der Politikkritik heute?

Keim: Die politische Karikatur, Röntgenbild und Akupunktur zugleich, stellt täglich Fragen nach unserem Lebensstil und unserem Lebenszweck, nach dem Menschen im Schatten seines Ideals. Dabei ist sie nach der Bewertung Ronald Searles "optisches Juckpulver, das die Betroffenen zwingt, sich zu kratzen" - und das zugleich mit einer Mischung "aus saurem Hering, Honig, Schlagsahne und einem kräftigen Schuss Schwefelsäure". Die politische Karikatur führt heute mit beispielhafter Ethik in Zonen der Kampfansage und der Nachdenklichkeit. Sie gehört zur Zeit zu den wenigen Emotionsimpulsen, die zum Lachen oder Lächeln einladen, die als Karies und Caritas zugleich ein beeindruckendes "SOS" aussenden und dabei auch ein Lackmustest zur Zeitgeschichte sind. Wir brauchen heute die politische Karikatur dringender denn je. Und sei es allein schon zum Abbau der Selbstidealisierungen und individuellen Selbstbilder im politischen Raum.

Für unsere Demokratie liefern die Karikaturen unentbehrliche Zeichen und Einsichten, die mit thermischer Beständigkeit und erstaunlich standhaftem Korrosionsverhalten Akte der Verantwortung, der Moral und der Kritik ins Bild setzen. Dabei werden Problemfelder, Widersprüche aus allen Lebenssektoren ebenso zur Unterhaltung wie als Bildungsanregung mit den Mitteln der Übertreibung, der Reduktion, mit Metaphern, Allegorien oder Typisierungen zu wahrnehmungspsychologischen Ansätzen geführt. Noch immer gilt: Wer in der Zeitung steht, ist "in", wer in der Zeitung karikiert wird, ist "inner". Doch ein solcher Satz darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Pressekarikatur heute in immer mehr Presseorganen zum Stiefkind wird. Mit Sorge erfüllt mich, dass die Abdrucke von politischen Karikaturen in der Presse sinken, dass die Karikatur zum "Schmuckbeitrag" degradiert wird, dass in der Zunft der Karikaturisten Nachwuchsprobleme eklatant sind, dass so manche kritische Satire in der Schreibtischschublade verschwindet und auch an vielen Universitäten ein "Libido-Komplex" gegenüber der Karikatur besteht.

Standard: Ist die politische Karikatur der demokratischste Leitartikel, weil sie vermeintlich oder idealerweise mehr Menschen verstehen bzw. dechiffrieren können als etwa einen sprachlich komplexen Kommentar? Oder ist die Entschlüsselung gar nicht so leicht ist, wie es scheint?

Keim: Eine "gute", das heißt in Form und Inhalt gelungene Karikatur gibt keine Rätsel auf. Ein sehr wichtiges Kriterium für die politische Pressekarikatur ist ihre Aktualität. Das heißt sie muss die Hauptnachricht des Tages auf den Punkt bringen. "Die Kari", sagt Thomas Leif, "soll etwa aussagen, was sich der Leitartikler in seinem grenzenlosen Sowohl-als-auch nicht zu sagen traut ... Der Zeichner ist also ein Hofnarr, ein Dekorateur, der das Tablett für die Politik reicht." Dabei ist die Karikatur, mehr als der Leitartikel, ein Interesseneinstieg für Lesefaule oder Überschriftenleser, eine Animation gegen den Papierkorb und für ein Bildungsangebot. Außerdem ist es für die Satire ein legitimes Mittel, aus, ich zitiere den Karikaturisten Horst Haitzinger, der "Mücke einen Elefanten zu machen, allerdings die Mücke (der Kern der Aussage) muss wahr sein". Das Erfreuliche: Meistens genießt der Karikaturist bei seiner Zeitung - und bei seinen Fans - noch eine größere Narrenfreiheit als der Leitartikler oder der besorgte Chefredakteur.

Standard: Darf ein politischer Karikaturist alles und jedes karikieren - oder gibt es Grenzen?

Keim: Die Karikatur profitiert von der Tatsache, dass man im Scherz mehr sagen kann als im Ernst. „Der Freiraum des Spaßes ist größer als der Freiraum des Ernstes, auch wenn der Spaß nur die Form des Spaßes und den Inhalt des Ernstes hat", sagt der Karikaturenforscher Franz Schneider, für den übrigens auch die didaktische Motivation des Lachens als ein Mittel für Freiheitserweiterung und Belohnung der Denkleistung eine Rolle spielt. Natürlich bestehen auch für die Karikatur durch die Gesetze gegebene Grenzen. Weitgehend gehören Sexualität, Krankheit, Tod, Behinderungen, Glaube und Religiosität neben flexiblen Geschmacksfragen zu den Tabuzonen. Karikaturen müssen ärgern und anjucken. Aber auch der Karikaturist unterliegt der Erwartungshaltung seiner „Kunden". Auch er unterliegt den Gegebenheiten des „Marktes" und des Wettbewerbs. Dabei muss er individuell entscheiden, welche autonome bildhafte Welt- und Ereignis-Deutung er in seinen Zeichnungen realisieren kann und will, welche menschlichen Schwachstellen und Standorte er markiert. Dabei gilt, wie schon für Felix Mussil, den Nestor der deutschen Karikaturisten vor Jahren, die Maxime: „Treffen, aber nicht um jeden Preis. Dabei immer die Feder in der Tusche, aber nie im Gift!"

Standard: Sie selbst haben 2009 das Museum für zeitgenössische Kunst, Kultur und Karikatur (muzkkka) in Rotenburg an der Fulda initiiert, Ende 2011 machte es nach Querelen um die Finanzierung eines Zubaus dicht. In Österreich gibt es in Krems seit 2010 ein Karikaturenmuseum. Ist die Karikatur ein Stiefkind der Kulturpolitik?

Keim: Lassen Sie mich Ihre Jahrhundert-Frage so beantworten: Karikaturisten sind Augen-Menschen mit offenen Ohren. Sie sind sowohl Künstler als auch Journalisten. Mich bedrückt am allermeisten, dass sie zur Zeit völlig unverdient zu Stiefkindern der Kulturpolitik geworden sind, sowohl in Österreich als auch in Deutschland. Mehr als Mitleidende denn als Weltverbesserer leiden sie am beklagenswerten Zustand der Welt und reklamieren dabei indirekt eine bessere Zukunft. Als Zeitzeugen und Zeitgenossen sind sie das sichtbar schlechte Gewissen der Gesellschaft. Mit demokratisch-freiheitlichem Engagement entdecken sie so manche Sehschwäche und so manchen Sturzflug. Im Gewand der Komik und des Humors sind sie ein unentbehrlicher demokratischer Kommentar zum Tages- und Zeitgeschehen. "Der Mensch", schrieb einst Mirko Szewczuk, der wohl begabteste deutsche Karikaturist der Nachkriegszeit, "hat die Gnade zu stolpern. Und derjenige, der ihn mit dem Zeichenstift dabei begleitet, ist der Karikaturist." Daran hat sich bis heute nichts geändert. Und so wird es auch in Zukunft trotz wachsender moderner Kommunikationsnetze dabei bleiben, dass die politische Karikatur die Finger in die Wunden ihres Umfelds legt, nach dem Motto "lachend die Wahrheit sagen". (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.1.2012)