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Ben Ali und Leila Trabelsi: eine zerfallende Mafiafamilie mit einem schwer angeschlagenen Patriarchen, ohne jeden ideologischen Ehrgeiz, der bald um sein Leben lief.

Foto: AP/Dridi

Eine ganze Zeitungsseite zu Tunesien? Das kleine Land zwischen Libyen und Algerien war jahrelang für Außenpolitikjournalisten ein weißer Fleck auf der Landkarte, eine politische Wüste, aus der nur selten Lebenszeichen kamen. Schlagartig änderte sich das vor einem Jahr - und heute ist es klarer als damals, dass der Arabische Frühling nur dort beginnen konnte: eine zerfallende Mafiafamilie mit einem schwer angeschlagenen Patriarchen, ohne jeden ideologischen Ehrgeiz, der bald um sein Leben lief.

Sein Abgang erzeugte auch keine gröberen Verwerfungen in der Region - aber sie war ein Zeichen an der Wand für die Ägypter. Ohne diesen Verlauf der Revolution in Tunesien wäre Hosni Mubarak niemals so relativ rasch gewichen. Es war plötzlich politisch unmöglich, Panzer gegen Demonstranten auffahren zu lassen. Nicht so in Libyen und in Syrien, aber dort war, anders als in Ägypten, auch kein Ruf mehr zu verlieren.

Anders als in Ägypten spielte das Militär in Tunesien die Rolle einer Hebamme, die sich nach der Geburt weitgehend zurückzog. Man sollte sich keine Illusionen darüber machen, dass das heute, angesichts des Wahlerfolgs der Islamisten, manch ein General bereuen mag. Aber auch in Ägypten kann der Höchste Militärrat, der alle Zusagen, die Macht schnell an Zivilisten abgeben zu wollen, gebrochen hat, die Islamisierung der Politik nicht aufhalten. Die Politik zieht dem nach, was gesellschaftliche Realität ist.

Die Islamisten waren und sind für die Menschen die einzige glaubwürdige Gruppe. Liberal, links, westlich, säkular? Im besten Fall unbekannt, im schlechteren belastet. Ben Ali, Mubarak, aber auch Gaddafi oder Ali Abdullah Saleh im Jemen galten als Männer des Westens.

Die Freiheit sollte den Menschen in der arabischen Welt neue politische Möglichkeiten außerhalb der Religion erschließen: Langfristig sind die Prognosen dafür intakt. Aber der Weg dahin wird noch steinig. Der erste Jahrestag in Tunesien ist nicht einfach, denn der wahre Auslöser für die Revolution, Armut und Ungerechtigkeit, wurde nicht beseitigt. Die behauptete "Sicherheit" , die autoritäre Regime bieten - Ruhe durch Terror - ist dahin. Manche Menschen, die den Umsturzbewegungen neutral gegenüberstanden, beginnen die Wende zu bedauern. In Ägypten haben die Gruppen, die die Revolution getragen haben, massiv an Rückhalt in der Bevölkerung verloren.

Die tunesischen Islamisten wissen, was sie tun, wenn sie die Regierungsverantwortung mit den anderen Kräften teilen: Denn Wunderrezept haben sie keines. Dennoch wird es Tunesien aufgrund seiner Parameter leichter schaffen als alle anderen. Eine Gefahr besteht in einem Rechtsruck Ägyptens: Wenn die tunesischen Islamisten sehen, dass dort eine islamische Agenda durchgesetzt wird, könnten sie auch für Tunesien diesen Ehrgeiz entwickeln. Denn auch in diesem Punkt sind wir klüger als vor einem Jahr, als die Behauptung Konjunktur hatte, die Islamisten hätten in Tunesien keine Chance. (Gudrun Harrer/DER STANDARD, Printausgabe, 12.1.2012)