Funksprüche aus einer devastierten Zone: Studenten des Wiener Konservatoriums halten Ausschau nach der Meeresfarbe.

Foto: Steffen Höld / Schauspielhaus

Wien - Nicht nur öffentlich-rechtliche Nachwuchsrapper hausen in den tristen Wohnblockanlagen der modernen Ballungszentren, sondern auch Angst, Schrecken und eine gehörige Portion Wahnsinn. Als ein albtraumhaftes Gefängnis beschreibt zumindest Nis-Momme Stockmann den Plattenbau, durch den die Figuren seines Stücks Das blaue blaue Meer geistern. Mit dem Jugenddrama hatte der gefeierten Nachwuchsdramatikers 2010 seinen Einstand als Hausautor am Schauspiel Frankfurt, jetzt präsentieren es Studenten des Konservatoriums Wien im Schauspielhaus.

Horror Wohnanlage

Deren Interesse an dem Stück ist nachvollziehbar, immerhin ist die Geschichte äußerst gegenwärtig und so übervoll mit abstrusen Anekdoten über den Horror namens Wohnanlage, dass es fast schon an Verschwendung grenzt.

Zugleich ist eine szenische Darstellung des Textes jedoch kein leichtes Unterfangen, da er sich wenig um Bühnenkonventionen kümmert. Das blaue blaue Meer ist in erster Linie ein Monolog des jungen Darko, der sich im Wohnblock H um sein Leben säuft und dabei schon erste Erfolge verbuchen konnte: ein Bein hat er infolge des ständigen Alkoholkonsums bereits verloren. Er sendet gleichsam Funksprüche aus einem Katastrophengebiet, die von Eltern erzählen, die schon vor ihrem Ableben zu Gespenstern geworden sind, von Kettensägen, Missbrauch, Kindergrabeshügeln und dem, was hier architekturgegeben der natürlichste Tod zu sein scheint, dem finalen Sprung vom Dach.

Gelegentlich überlässt Darko die direkte Rede auch seinen wenigen Freunden, allen voran der 19-jährigen Motte. Die "Wohnsiedlungsprostituierte" ist für ihn trotz ihrer Narben wunderschön und sehnt sich nach Norwegen, wo das Meer angeblich so blau ist wie nirgends sonst auf der Welt.

Steffen Höld verteilt den Text für seine Inszenierung auf die Schauspieler, lässt Eva Bauriedl, Cecilia Hafiz, Julian Ricker, Christoph Schlag und Johannes Schüchner in die verschiedensten Rollen schlüpfen. Selbst ein genüsslich nölender Braunbär kommt zu seinem Recht auf Bühnenzeit.

Hoher Schauspielton

Mit der reduzierten Ausstattung (Bühne: Martin Schwab, Kostüm: Miriam Draxl), die sich im Wesentlichen auf Pappkartons und Klebeband beschränkt, entsteht so ein um lockere Beiläufigkeit bemühtes Theater. Auch die Darsteller geben sich weniger outriert, als es der Text ermöglichen würde, ihr gepflegtes Bühnendeutsch unterstreicht indessen die Künstlichkeit der Schauspiels.

Diese Art der Aufführung funktioniert in den vielen knackigen Momenten des lediglich einstündigen Stücks recht gut und ist neben den unzähligen tiefschwarzen Skurrilitäten immer wieder für einen Kicherer gut. Wenn Stockmann einen Gang zurückschaltet und versucht, seine Figuren in poetischere Sphären zu heben, kann die Inszenierung jedoch nur wenig zum Gelingen dieser Bemühung um Rührung beitragen. Einnehmend ist allerdings, wie das Brechen eines Jungmädchenherzens zu Gehör gebracht wird: durch das Knacken der Schalen sackfrischer Nüsse. (Dorian Waller, DER STANDARD - Printausgabe, 12. Jänner 2012)