Der Fotoreporter Kadir Can hat einen Band über die Jahre vor dem Putsch von 1980 veröffentlicht
30 Jahre nach dem Putsch hat er seine Archivschachteln hervorgekramt und eine Fotosammlung veröffentlicht, die derzeit bald jede Woche in neuer Auflage gedruckt wird: "Der 12. September 1980 und die Ausschaltung des Geistes" heißt der Titel in etwa ("12 Eylül 1980 Akıl Tutulması", Boyut 2011). Kadır Can, ein heute 60 Jahre alter Fotoreporter, führt Türken und Nicht-Türken zurück in die Zeit des fürchterlichsten der dreieinhalb Staatsstreiche, die das türkische Militär seit der Republikgründung verübt hat.
Oder richtiger: zurück in die Jahre vor dem Putsch. Das jüngste Foto in
dem Band bezieht sich auf den 22. Juli 1980, den Tag, als der
Gewerkschaftsboss Kemal Türkler und seine Tochter Nilgün vor ihrem Haus
im Istanbuler Stadtteil Merter erschossen wurden. Kadır Cans Bild zeigt
die Totenfeier - ein Dutzend junge Männer, die um den Sarg des
Gewerkschaftsführers stehen, einen Arm stumm in die Höhe gereckt, die
Faust geballt. Ein Land kämpft mit sich selbst.
Kadır Can, Fotoreporter der Tageszeitung Günaydın, bei der er von 1971 bis 1983 arbeitete, legt selbst dieses Panoptikum der Gewalt im Vorwort zu seinem Band fest: "Die Serie von Lehrer- und Arbeiterdemonstrationen, Streiks, Boykottaktionen, Widerstandsbewegungen, Brandanschlägen, Kämpfen, Morden, Begräbnisfeiern, Selbstmordanschlägen und die Wahl von politischen Parteiführern bis zum 12. September 1980, waren Teil meines Lebens."
Alles beginnt friedlich mit einem Picknick von Freunden auf einer der Prinzeninseln, von denen Can stammt. Die jungen Leute sitzen auf dem Boden, Zeitungsseiten sind als Picknickdecke ausgebreitet, darauf liegen eine Art Mortadella, Oliven und kleine Straßen von Tomaten, jeder hält eine Flasche Bier in der Hand. Die Türkei sieht liberaler aus, gesellschaftlich offener, ungleich weniger vom Konsum getrieben als heute. Es ist der 1. Mai 1974, drei Jahre nach dem Putsch vom März 1971 und den Technokratenregierungen. Das Leben wird wieder normal, oder so scheint es zumindest.
Die nächsten Mai-Feiertage sind blutig. 1976, vor allem 1977 sind geprägt von Straßenschlachten in Istanbul, links gegen rechts, die Arbeiter, mit Stöcken bewaffnet gegen die Polizei. Kadır Can ist am Taksim-Platz, aber auch in Ümraniye. Wo heute Ikea und Mediamarkt stehen, war 1977 ein Slumviertel am Stadtrand Istanbuls und am 1. Mai jenes Jahres der Aufstand gegen die Staatsgewalt. Kopftuchfrauen aus Anatolien schwingen Stöcke gegen die Polizisten. Die erste Leiche in Cans Buch ist auch eine Frau, die von einem Panzerwagen überfahren wurde.
1977 gewann der Sozialist Bülent Ecevit mit großen Hoffnungen die Wahlen, nur zwei Jahre später wird er abgestraft. Die 100-Prozent-Inflation hat auch die Wählerstimmen geschluckt. Und der Straßenterror von Dev Sol, den Grauen Wölfen und der Konter-Guerilla innerhalb der Armee zerreißt das Land. Das Massaker an den Aleviten in Kahramanmaraş im Dezember 1978, im Südosten des Landes, verübt von den Rechtsextremen der noch heute im Parlament sitzenden MHP und zumindest gebilligt von der Armee, und im Frühjahr 1980 in Corum in Nordanatolien, schürt die innenpolitischen Kämpfe bei allen Demonstrationen, die Kadır Can fotografiert. Er ist auch dabei, als vier Lehrer im März 1980 am Rande einer Demonstration in Beyazit in Istanbul einen Streit in einer Bank beginnen, der zum Shoot-out mit der Polizei wird.
Im Jänner 1980 stürmt die Polizei das Izzet Ünver Gymnasium im Istanbuler Stadtteil Güngören und nimmt 500 Lehrer fest. Es ist das Titelfoto von Cans Band: Die Zivilisten auf dem Bauch liegend, ausgestreckt am Boden und aufgereiht wie die Fische nach dem Fang. Der nächste Putsch der Generäle rückt immer näher.
Am 28. Jänner 1980 organisiert der Gewerkschaftsverband Disk in Izmir
eine Protestkundgebung gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung. Eines
der eindruckvollsten Bilder des Bandes zeigt einen zwölf Stockwerke
hohen Rohbau am Platz der Republik, nicht weit, wo heute Izmirs
teuerstes Hotel steht.
Gewerkschafter und linke Aktivisten besetzten
kurzerhand den Bau und drapierten ihn mit Transparenten - die Türkei als
ein gigantisches Haus der Revolutionsparolen. Acht Monate später senkt
sich der Vorhang. Ein anderes Land geht aus dem Staatsstreich von 1980
hervor: marktwirtschaftlich und konservativ-islamisch.