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Kindheitserinnerungen: "Gegen Mittag stand, zwischen meinem Lotterbett und der Speiszimmerkredenz, der schönste Christbaum, den man sich denken kann ..."

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Christine Nöstlinger, geb. 1936 in Wien-Hernals. Mit über 100 Büchern zählt sie heute zu den bekanntesten Kinderbuchautoren im deutschen Sprachraum. Seit 1970 von ihr "Die feuerrote Friederike" erschien, hat sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten, u. a. den Astrid-Lindgren-Gedächnis-Preis (2003). Im Dezember 2011 wurde ihr das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich verliehen.

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Für meine Mutter war der Heilige Abend geliebter Höhepunkt des Jahres, für meinen Vater war er verachteter Tiefpunkt des Jahres. Ich war das Kind dazwischen.

Da ich mich für keine kompetente Auskunftsperson halte, pflege ich mich nur in Notfällen zu fragen. Lieber hole ich mir Antworten auf meine Fragen von Leuten, die für mich Autoritäten sind. Die Notfälle ergeben sich nur, wenn mir zwei Autoritäten diametral entgegengesetzte Antworten liefern. So ein Notfall war in meiner Kindheit Weihnachten.

Da blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu fragen, was ich davon halte. Aber so oft ich mich auch fragte, ich bekam keine eindeutige Antwort von mir. Schuld daran waren meine zwei Kindheits-Autoritäten, meine Mutter und mein Vater. Für meine Mutter war der Heilige Abend geliebter Höhepunkt des Jahres, für meinen Vater war er verachteter Tiefpunkt des Jahres.

Mein Vater hielt Weihnachten schlicht und einfach für ein religiöses Fest, das ihn nichts anging. Mit Religion hatte auch meine Mutter nichts im Sinn. Sie wollte ein Fest feiern, das den Glanz und den Luxus ihrer Kindheit herzauberte. Sie war ein reiches Kind gewesen, dem die Großmutter jeden Wunsch erfüllt hatte. Dann war die Großmutter gestorben, der Erste Weltkrieg war gekommen, die Vormundschaft hatte mit dem Vermögen des Kindes Kriegsanleihe gezeichnet, und nach dem Krieg war aus dem reichen Kind ein bettelarmes geworden. Akzeptiert hat meine Mutter diese Enteignung nie. Ging ich mit ihr spazieren und kamen wir an Häusern oder Grundstücken vorbei, die einmal zu ihrem Besitz gehört hatten, sagte sie immer: "Das alles gehört eigentlich uns!" Und weil sie "das alles" nicht zurückholen konnte, sollte wenigstens der Heilige Abend so sein wie damals, in den reichen Zeiten. Wenn man in einer Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung lebt, lässt sich natürlich kein Fest wie in einem Zwölf-Zimmer-Haus mit Kronlüstern, Dienstboten und prächtig gedeckter Tafel feiern. Also konzentrierte sie sich auf das Mögliche, und das waren: der Christbaum und die Geschenke!

Im März fing sie an, Geschenke zu kaufen. Gab es halt zweimal die Woche Grenadiermarsch oder Grießschmarren, Hauptsache, der Weihnachtskasten füllte sich mit Paketen! Der Weihnachtskasten war ein hellgrüner Schleiflack-Schrank. Er war das einzige Möbel, das meiner Mutter aus Kindertagen geblieben war, und er war nur für die Weihnachtsgeschenke da und stets versperrt.

Wer auf vierzig Quadratmetern lebt, dem mangelt es an Stauraum. Da muss viel Hab und Gut, selbst wenn man wenig besitzt, auf Schränken und unter Betten gelagert werden. In so beengten Verhältnissen einen Kasten für nichts als Weihnachtsgeschenke zu haben, hielt mein Vater für irren Luxus, für verrückt. Und wenn ich wieder einmal fünf Schachteln von einem Schrank holen musste, um meine Winterschuhe zu finden, gab ich ihm recht.

Gegen Ende Oktober war der Weihnachtskasten randvoll mit Packpapierpaketen, und meine Mutter verkündete zufrieden: "Ich hab für Weihnachten schon alles beinand!" Bei zweimal die Woche Grenadiermarsch und Grießschmarren blieb es trotzdem, denn nun brachte sie täglich "Christbaumstücke" heim. Geigen, Likörfläschchen, Zwerge, Nüsse, Tannenzapfen und Glocken aus Schokolade, in buntes Stanniol gewickelt. Jeden Abend saß sie vor ihren Schätzen, sortierte und überlegte, was noch fehlte und wo es zu "ergattern" wäre. Einmal fuhr sie mit der Straßenbahn nach Favoriten, weil jemand gesagt hatte, dass es dort in einem Zuckerlgeschäft Schoko-Papageien gibt.

Am ersten Tag, an dem es Christbäume zu kaufen gab, zogen wir los. Meine Mutter, meine Schwester und ich. Wir liefen kreuz und quer durch Hernals, von Christbaum-Verkauf zu Christbaum-Verkauf, bis wir eine Tanne fanden, die meiner Mutter gefiel. Schnaufend schleppten wir sie heim und lehnten sie im Hof an die Hausmauer. Dass sie zu groß ausgefallen war, denn sie reichte bis zu den Fenstern im ersten Stock, ignorierte meine Mutter. Sie war bloß glücklich, den schönsten Baum heimgeholt zu haben. Und dieses Glück hielt an. Sie summte Weihnachtslieder vor sich hin, mehrte ihren Schatz an "Christbaumstücken" und buk Kekse. Honigbusserln und Spitzbuben. Mit jedem Tag zum 24. Dezember hin, summte sie lauter und glücklicher. Und je lauter und glücklicher ihr Summen wurde, umso mehr versteinerte sich die Miene meines Vaters. Und je näher der Heilige Abend rückte, umso seltener tauchte er aus dem Kabinett auf. Das Kabinett war sein Reich. Da schlief er, und da hatte er seinen Werktisch, an dem er Uhren reparierte.

Am Tag vor dem Heiligen Abend fing mein Einsatz an. Ich hatte Schokolade auf Eckerln zu brechen und in Fransenpapier zu wickeln. Spätestens nach zwei Stunden des Wickelns verging mir der Spaß an der Sache, aber mir war klar: Meine Mutter hätte eher Verständnis für drei Wochen Schulschwänzen als für die Verweigerung der Fransen-Wickel-Tortur. Also wickelte ich brav und erzeugte lockere Riesenberge bunten Behangs. Möglicherweise war auch meine Schwester am Wachsen der Berge beteiligt, aber in meiner Erinnerung sehe ich mich als einsame, frustrierte Akkord-Arbeiterin, zwischen Schüsseln voll Keksen und Schachteln voll "Christbaumstücken".

Tannengrün und Osrambirnen

Am Vierundzwanzigsten in der Früh dann, machten wir uns ans Möbelrücken. In unserem Zimmer standen zwei Lotterbetten, ein Klappbett, zwei Schränke, ein Ofen, der Weihnachtskasten, ein Esstisch, vier Sessel, eine Kommode, zwei Polstersessel, ein Tischerl mit dem Radio drauf, ein Pianino samt Stockerl, und ein Monstrum, das meine Mutter Speiszimmerkredenz nannte. Für den riesigen Christbaum war da kein Platz. Also kam der Esstisch vor die Lotterbetten, die Polstersessel wanderten in die Küche, das Tischerl samt Radio kam auf die Kommode, und das Stockerl rollte unter den Esstisch.

War das geschafft, bekam ich von meiner Mutter den Auftrag, meinem Vater zu sagen, dass er den Christbaum hereinholen möge. In Krisensituationen kommunizierten meine Eltern stets über mich als Vermittlerin. Dass sich meine Mutter beim Christbaumkauf verschätzt hatte, war mein Vater gewöhnt, also nahm er gleich den Fuchsschwanz in den Hof mit, wo er dann, vor sich hin fluchend, dem Baum das untere Drittel absägte, und nachdem das erledigt war, dem zugespitzten Stammende das Christbaumkreuz aufklopfte. Wobei er bei jedem Schlag, den er tat, grimmiger dreinschaute und verbitterter fluchte. Da mein Vater ein gutes Augenmaß hatte, reichte der Baum, in die Senkrechte gebracht, exakt vom Boden bis zur Zimmerdecke. Bloß konnte sich die unterste Astreihe nicht optimal entfalten. So viel Platz hatten wir nicht schaffen können. Also musste mein Vater wieder sägen, und was er unten abgesägt hatte, nach Anweisung meiner Mutter weiter oben einsetzen, weil die Tannen nicht so perfekt gewachsen waren wie heutzutage.

Gegen Mittag stand, zwischen meinem Lotterbett und der Speiszimmerkredenz, der schönste Christbaum, den man sich denken kann, und mein Vater versuchte den Rückzug in sein Kabinett. Ohne Erfolg. Denn die Leiter, die auf dem Gang-Klo hing, in die Wohnung zu tragen, war nach Ansicht meiner Mutter, Männerarbeit. Und die Leiter hochzusteigen, um das obere Drittel des Baumes zu schmücken, war ebenfalls Männerarbeit. Weil Kinder leicht von Leitern fallen und sie selber ab der zweiten Leiterstufe Höhenangst bekam. Ich bot mich jedes Jahr an, die Leiter zu erklimmen, aber meine Mutter bestand darauf, dass dies mein Vater tun müsse. Glücklich lächelnd und weihnachtliches Liedgut summend, überreichte sie ihm den silbernen Christbaumspitz. Mein Vater nahm ihn, stieg die Leiter rauf, rammte den Spitz so wütend auf das Tannenspitzel, dass alle Äste bebten, und nun war der Zeitpunkt für seine Gegenwehr gekommen! Lauthals sang er "Morgen, Kinder, wird's was geben" auf uns runter. Allerdings mit dem Text von Erich Kästner. "... doch ihr dürft nicht traurig werden, Reiche haben Armut gern. Gänsebraten macht Beschwerden. Puppen sind nicht mehr modern. Morgen kommt der Weihnachtsmann, allerdings nur nebenan."

Meiner Mutter verschlug es das Summen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie tat mir wirklich leid, aber spätestens, wenn die Stelle kam "... Tannengrün und Osrambirnen, lernt drauf pfeifen, werdet stolz, reißt die Bretter von den Stirnen, denn im Ofen fehlt's an Holz", sang ich mit.

In den Konflikt meiner zwei Kindheits-Autoritäten hatte sich eine dritte Autorität eingemischt, meine Kinderbuch-Autorität, und der konnte ich einfach nicht widerstehen. Mit Zitterstimme rief meine Mutter: "Hört sofort auf, macht nicht immer alles schlecht!" Aber mein Vater und ich sangen weiter, bis zum schönen Ende: "... Wer nichts kriegt, der kriegt Geduld. Morgen, Kinder, lernt fürs Leben. Gott ist nicht allein dran schuld. Gottes Güte reicht so weit ... Ach, du liebe Weihnachtszeit!" Dann stieg mein Vater erleichtert grinsend von der Leiter und verschwand in seinem Kabinett. Und meine Mutter schimpfte hinter ihm her: "Wenn nicht Weihnachten wäre, würde ich die Scheidung einreichen!"

Ob mein Vater aus seinem Kabinett wieder rausgekommen ist, weiß ich nicht mehr. In meiner Erinnerung taucht er an den Heiligen Abenden weder neben dem strahlenden Christbaum noch zwischen den Geschenkebergen auf. Wahrscheinlich hat ihn meine Mutter zum Rauskommen gezwungen, und ich habe ihn einfach übersehen, damit ich mich so freuen kann, wie es sich meine Mutter von mir wünscht. Und ich frage mich noch heute, zwei Jahrzehnte nach dem Tod meiner Mutter, ob ich ihr zuliebe oder mir zuliebe Weihnachten feiere.

Morgen, Kinder, wird's was geben. Doch ihr dürft nicht traurig werden. Reiche haben Armut gern. Gänsebraten macht Beschwerden. Puppen sind nicht mehr modern ...       (Christine Nöstlinger / DER STANDARD, Printausgabe, 24./25./26.12.2011)