Ja, das dauert: Molekularkoch Ferran Adrià (ganz rechts und unten) beim Entwickeln neuer Gerichte.

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Wien - Ein Film über das beste Restaurant der Welt, der einem bereits in der ersten Szene den Appetit verdirbt: Das hat schon was. Bei völliger Dunkelheit hält die Kamera auf den Mund von Ferran Adrià. Der größte Koch der Neuzeit testet einen Lutscher. Nach und nach beginnen Zunge, Lippen und Lolly auf der schwarzen Leinwand blau fluoreszierend zu leuchten. Jede Lippenfurche, jede Knospe der behände leckenden Zunge erscheinen in multipler Vergrößerung auf der Leinwand: Dass einen der Chef des Restaurants El Bulli gar so intim an sich heranholt, war nicht ausgemacht - und nicht unbedingt erwünscht.

Der Leuchteffekt ist dem Lutscher zu verdanken, der mit dem Protein eines fluoreszierenden, tropischen Fisches präpariert ist: ein kulinarischer Gag, wie er auch im El Bulli zum Amüsement der Gäste beitragen könnte. Das Restaurant galt über die vergangenen zehn Jahre als Weihestätte der Kreation, Kristallisationspunkt der Molekularküche und Sehnsuchtsort jedes Gourmets.

Es hatte nur sechs Monate im Jahr geöffnet, die restliche Zeit verwandte Adrià darauf, neue Gerichte zu entwickeln und durchaus gewöhnlichen Lebensmitteln mithilfe eines Arsenals technischer und chemischer Hilfsmittel überraschende, gern auch schockierende Geschmackssensationen zu entlocken. Für Gerichte wie sphärisierte Olive, am Gaumen vibrierende "Elektrische Milch" oder "Verschwindende Ravioli", die sich auf der Zunge in nichts als Geschmack auflösen, wurde Adrià als eminenter Künstler gefeiert, was 2007 in einer Einladung zur Documenta gipfelte.

Akribie, nicht Abenteuer

Der deutsche Dokumentarfilmer Gereon Wetzel hat Adrià ein Jahr lang bei diesem Kreationsprozess beobachtet. Dass das El Bulli seit Juli 2011 zu ist, weil Adrià sich dem Geschmack nunmehr jenseits der Grenzen eines Restaurantbetriebs widmen will und auch die Molekularküche inzwischen vom Trend zu radikaler Natürlichkeit abgelöst wurde, nimmt der 2008 entstandenen Doku natürlich einiges an Aktualität.

Was eine Reise in die Welt des fortgeschrittenen Geschmacks sein hätte können, entpuppt sich bald als steril-akribische Montage, bei der die Beweggründe für Adriàs Expeditionen an die äußeren Galaxien der Kulinarik - Emotion, Abenteuer, Sensation - seltsam ausgeblendet bleiben. Stattdessen wird Adriàs Mannschaft wieder und wieder beim Verrichten öder Küchenarbeit (Gemüse schälen, Gelee anrühren ...) gefilmt.

Kein Kontext, keine Erzählstruktur, die einen mit auf den Weg nähme. Kaum Emotionen außer der bangen Blicke der Mitarbeiter, wenn ein neuer, für den Zuseher nicht nachvollziehbarer Entwicklungsversuch - in Pistazienöl vakuumierte und grün gefärbte Champignons?- dem Meister vorgesetzt wird. Anstatt zu stimulieren und Appetit auf das Abenteuer Kreation zu machen, wirkt El Bulli - Cooking in Progress wie eine langsame, aber umso wirksamere Schlafpille.  (Severin Corti / DER STANDARD, Printausgabe, 23.12.2011)