Mitteilungsblatt der Wiener "Kinderschutz und -rettungsgesellschaft".

Foto: Malleier

Die Historikerin Elisabeth Malleier rollt die Entstehungsgeschichte österreichischer Kinderheime auf.

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Die Ansicht, dass Kinder besonderen Schutz brauchen und sogar eigene Rechte haben sollten, hat sich auch in der westlichen Gesellschaft erst im Lauf des 20. Jahrhunderts verbreitet. So entstand die erste Kinderschutzinitiative in Österreich weniger aus Sorge um das Wohl von Kindern, als aus Angst vor einer wachsenden Zahl gesellschaftlich nicht integrierbarer Individuen. Ging doch der erste "Wiener Schutzverein zur Rettung verwahrloster Kinder" aus dem 1843 gegründeten "Verein zum Schutze und zur Unterstützung ausgetretener Sträflinge inner den Linien Wiens" hervor.

Wie kam es zu dieser befremdlichen Verbindung von Kinderschutz und Haftentlassenenbetreuung? "Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war es durchaus verbreitet, Kinder in Gefängnisse und Arbeitshäuser zu sperren", erklärt die Historikerin Elisabeth Malleier. "Nach der Entlassung standen diese Kinder wie meist auch schon vorher wieder vor dem Nichts und wurden notgedrungen erneut straffällig. Aus dieser Problematik heraus gründete der Wiener Schutzverein die ersten sogenannten Rettungshäuser für Kinder." In ihrer vom Wissenschaftsfonds geförderten Untersuchung über die Anfänge der Kinderschutzbewegung in Österreich arbeitet Malleier einen verstörenden Aspekt österreichischer Sozialgeschichte auf. Aktualität gewinnt dies durch die Missbrauchsfälle beispielsweise in Wiener Heimen, die heuer an die Öffentlichkeit gelangten.

Gehorsam und Respekt

Denn in diesen "Rettungshäusern" sollten die schutz- und rechtlosen Kinder weniger vor Armut und Gewalt gerettet werden, als "vor einem 'liederlichen und gottlosen Leben' und den 'Gefahren des Müßiggangs'", weiß Malleier aus dem Studium zahlreicher Vereinsschriften, Jahrbücher und Zeitungsartikel jener Zeit. Die Erziehung zielte auf Gehorsam, Religiosität, Arbeitsmoral und Sparsamkeit. Da sich viele Buben und Mädchen dieser "Rettung" durch Davonlaufen entziehen wollten, wurden solche Heime nahezu wie Gefängnisse geführt. So sollte eine 1868 in Klagenfurt eröffnete "Rettungsanstalt" nach den Vorstellungen ihres Stifters als "Zwangs-Arbeitshaus für entartete und verwahrloste Jugendliche sowie eltern- und dienstlose Menschen" dienen.

Obwohl viele Kinder aus verschiedenen Gründen völlig auf sich allein gestellt waren, wurden im Wiener "Waisenbureau" nur elternlose Kinder aufgenommen. Die große Zahl jener Kinder, deren Eltern aufgrund von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus oder Gefängnisaufenthalt etc. nicht für sie sorgen konnten, musste ohne Hilfe zurechtkommen. Viele von ihnen landeten immer wieder im Gefängnis. Nur für jüngere Kinder werktätiger Eltern gab es in Wien ab den 1830er-Jahren einige private Armenkindergärten.

Gewalt in der Familie galt als normal, da der Mann als Familienoberhaupt auch das sogenannte Züchtigungsrecht hatte. "Nicht selten wurden Kinder, die Gewalt erlitten hatten, selbst als Täter gesehen und bestraft", sagt Malleier. "Seit den 1840er-Jahren war in den Lehrerzeitschriften von der steigenden Verwahrlosung und Gewalt von Kindern und Jugendlichen die Rede. Dies wurde als gesamteuropäisches Phänomen im Zuge der Industrialisierung und der Entstehung des städtischen Proletariats betrachtet."

Zu Tode geprügelt

Dass Gewalt gegen Kinder überhaupt zu einem öffentlichen Thema wurde, war nicht nur in Österreich ein Verdienst der Presse. So ging die Gründung des großen, überkonfessionellen Vereins "Kinderschutz- und Rettungsgesellschaft" nicht zuletzt auf zwei 1899 in den Medien breit dargestellte Fälle von Kindesmisshandlung mit tödlichem Ausgang zurück. Eines der Opfer war die elfjährige Anna Kutschera, die von ihrer Stiefmutter zu Tode geprügelt worden war. Davor wurde das Kind nach zahlreichen Fluchtversuchen immer wieder von der Polizei nach Hause zurückgebracht.

Dass sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überhaupt freiwillige Kinderschutzvereine bildeten, war nicht nur auf plötzlich erwachte altruistische Regungen zurückzuführen. "Das mit der Industrialisierung entstehende Proletariat wurde von Bürgertum und Adel als Bedrohung empfunden", sagt die Historikerin. "Durch den Zugriff auf die Kinder der Armen und ihre Zurichtung versuchte man nicht zuletzt auch eine Änderung politischer Verhältnisse zu verhindern." Die Erziehung in den verschiedenen Einrichtungen spiegelte deren jeweiligen ideologischen Hintergrund. Während die von liberalen Bürgern gegründete "Kinderschutz- und Rettungsgesellschaft" auch moderne pädagogische Konzepte diskutierte und Gesetze zum Schutz von Kindern vorschlug, ging es den konservativ-katholischen "Kinderschutzstationen" vor allem um ein rechtzeitiges Ersticken "gottloser" sozialdemokratischer Ideen durch eine strenge religiöse Erziehung.

Trotz aller Fortschrittlichkeit habe aber auch die Rettungsgesellschaft letztlich auf den Erhalt des gesellschaftlichen Status quo abgezielt: "Die Kinder sollten sich mit ihrer Herkunft und mit einer Zukunft in Armut abfinden", erklärt Elisabeth Malleier. "Um aus ihnen nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu machen, wurden sie üblicherweise auf untergeordnete Berufe wie Knecht oder Dienstmädchen vorbereitet. Oder sie wurden zu nationalen Zwecken verwendet - sei es beim Militär oder zur Kolonialisierung anderer Länder."  (DER STANDARD, Printausgabe, 21.12.2011)