Horst-Eberhard Richter inspirierte nicht nur die Friedensbewegung.

Foto: Universität Gießen

Gießen - "Der moderne Kapitalismus ist krank": Als der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter 2009 in einem Interview diese Feststellung traf, da konnte er dies auch im Wissen um einen bedeutenden historischen Vergleich tun. Denn die Weltwirtschaftskrise von 1929 hatte er als Kind selbst miterlebt, er erinnerte sich an "das öffentliche Bild von Armut und Bettelei, eine große Niedergeschlagenheit". Die Geschichte hielt für den 1923 in Berlin Geborenen noch eine weitere einschneidende Erfahrung bereit: Im Zweiten Weltkrieg musste er als Artilleriesoldat an der Ostfront kämpfen und war beim Vorrücken der Truppe mit den Todesopfern konfrontiert, die er "auf dem Gewissen" hatte.

Wie konnte er es auf der Grundlage einer solchen Jugend dazu bringen, eine der am meisten geachteten moralischen Autoritäten der Bundesrepublik zu werden? Richter musste "lernen, zu leiden", wie er es später einmal formulierte. Eine (noch philosophische) Doktorarbeit über Schmerz, schließlich ein 1957 abgeschlossenes Medizinstudium, das ihn auf einen Lehrstuhl für Psychosomatik in Gießen brachte, all das verwies ihn auf die individuellen wie kollektiven Dimensionen jeder Vergangenheitsbewältigung.

"Der Gotteskomplex"

Die Psychoanalyse verstand er ebenso sehr in einem kulturkritischen wie in einem therapeutischen Sinn. In den 70er-, 80er-Jahren wuchs Richter zu einem der großen Krisendiagnostiker des Westens heran. Umwelt- und Friedensbewegung fanden in seinen Werken wesentliche Inspiration, er beließ es aber nicht beim Schreiben, sondern engagierte sich auch konkret. 1985 erhielt die von ihm mitbegründete Organisation "Ärzte gegen den Atomkrieg" den Friedensnobelpreis. Das Buch Der Gotteskomplex, möglicherweise sein Hauptwerk, vereinte 1979 eine Kritik der Religion mit einer grundlegenderen Kritik der falschen Folgerungen daraus - dass der Mensch sich zu göttlichem Herrschaftsgestus aufgeschwungen habe, sei der Komplex, an dem die Gegenwart laboriere.

Richter stand politisch der SPD nahe, vor allem der von Willy Brandt, während Helmut Schmidt ihn einmal dazu befragte, warum er in der Öffentlichkeit vor allem als Technokrat wahrgenommen werde. Wenn es so etwas wie eine Bilanz des intellektuellen Lebens Richters gibt, dann liegt sie in einem Satz, den er 2006 über Natascha Kampusch sagte: "Sogar unter quälenden Umständen kann jemand eine Menschlichkeit entwickeln, die staunen macht." Am Montag ist er nach kurzer Krankheit 88-jährig in Gießen gestorben. (DER STANDARD, Printausgabe, 21.12.2011)

 (APA, red)