Bei der legendären Aktion "Kunst und Revolution" am 7. Juni 1968 im Hörsaal 1 des NIG (Neues Institutsgebäude) hielt Peter Weibel mit einem brennenden Handschuh eine "Brandrede".

Filmkader: Schmidt

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Systemkritik: Peter Weibel.

Foto: APA/dpa/Uli Deck

Standard: Sie traten als Dichter, Musiker, Filmemacher, Performancekünstler und Pionier der Videokunst in Erscheinung. Sie besuchten aber keine Kunsthochschule, sondern begannen Medizin zu studieren. Warum?

Weibel: Von Jugend an war ich enzyklopädisch interessiert, ich habe immer versucht, mich umfassend zu bilden - in der Philosophie, in der Naturwissenschaft, in der Literatur. Und ich habe schon als 16-Jähriger alles gleichzeitig betrieben: gedichtet, gezeichnet, Ideen für Filme entwickelt. Ich dachte mir, Medizin ist mit Chemie, Biologie, Anatomie, Physiologie und so weiter ein umfassendes Studium. Eigentlich wollte ich mich danach auf Neurologie spezialisieren, aber dann hat mir das Studium zu lange gedauert. Ich war zu ungeduldig. Und so bin ich übergewechselt zu Logik und Kybernetik. Aber parallel zu den Extremen der Abstraktion haben mich immer auch die Extreme der Körperlichkeit interessiert. Und das hat mich zum Aktionismus gebracht.

Standard: Ihre frühen Filme, Mitte der 1960er Jahre entstanden, gehen eine Verbindung mit dem Wiener Aktionismus ein. Und Sie versuchten, mit "Expanded Cinema" das Kino zu revolutionieren.

Weibel: Ja, es ging darum, den Film von der Leinwand zu lösen. Ich hab mir das, ehrlich gesagt, von der bildenden Kunst abgeschaut. Denn Künstler von Robert Rauschenberg bis Günther Brus haben die Leinwand erweitert. Ich habe mir gesagt, ich muss das Kino erweitern, z. B. durch Projektionen auf mich: Ich bin die Leinwand. Ich habe zum Beispiel einen Pornofilm auf mich projiziert. Pornofilme waren Mitte der 60er verboten. Einen aufzutreiben, war schwere Recherche. Aber es war interessant, nackte Körper auf einen nackten Körper zu projizieren. Oder eine Operation. Der Arzt macht einen Schnitt, man glaubt, ich werde operiert, aber der Schnitt ist nur eine Projektion auf meinen Bauch. Anschließend habe ich das Kino als apparative Schnittstelle der Sinnesorgane bzw. der Sinnesmodalitäten neu adaptiert und zu einem Vokabular umgeformt, das heute, nach 50 Jahren, weltweit akzeptiert ist - von multiplen Projektionen bis zu Lichtinstallationen.

Standard: Wie kam es, dass Sie zu Video wechselten?

Weibel: Im Mai 1968 schrieb ich auf den Boden eines Ausstellungsraumes mit Kreide 100 Mal das Wort "Recht". Die Leute gingen ratlos herum und fragten: "Wo ist die Kunst?" Durch das Herumgehen traten sie das Recht mit den Füßen. Ich bezog das Publikum mit ein, stellte es als Exponat ins Zentrum: Es hat das Kunstwerk erst entstehen lassen. Und im April 1969, in meiner ersten Videoarbeit, ging ich einen Schritt weiter: In der Galerie junge Generation in Wien gab es mehrere Monitore - eine Großbildprojektion wäre mir lieber gewesen, aber damals gab es noch keine Geräte dafür. Das Publikum kam in den Raum, sah keine Exponate, sondern nur sich selbst in den Monitoren. Die Menschen konnten sich also artikulieren - wie heute auf "Youtube". Und im nächsten Raum haben sie sich noch einmal gesehen, zeitverzögert. Um das zu steigern, habe ich die Leute interviewt: Was sagen Sie zu dieser Situation? Das war damals so ungewöhnlich, dass die Polizei gerufen wurde. Das sieht man auch auf dem Video. So lange das Publikum ein Kunstwerk anschaut, ist es in Ordnung. Aber wenn es sich nur selbst anschaut - und wenn es dann noch über das Sichselbstanschauen diskutiert, dann muss das irgendetwas Illegales sein.

Standard: War die Polizei nicht Ihr ganz besonderer Liebling? Das Buch, das Sie mit Valie Export über den Wiener Aktionismus veröffentlichten, brachte Ihnen eine Klage ein. Und es gibt ein Foto, wie Sie unter das Schild "Polizei" das Taferl mit dem Wort "lügt" halten.

Weibel: Ich hatte in den 1960er Jahren eine sehr kleine, aber sehr treue Leserschaft: Polizisten und Staatsanwälte. Die haben alles gelesen, was ich geschrieben habe. Und aufgrund dessen haben sie mich dann verklagt. Da gibt es unglaubliche Geschichten.

Standard: Zum Beispiel?

Weibel: 1968 machte ich in Schweden mit dem Franz Kaltenbeck eine Aktion: Wir zerstörten die Glasscheiben eines Museums - als Musikstück. Wir haben gesagt: Wir privatisieren das Museum, machen daraus ein Musikinstrument, schlagen die Glasscheiben ein, und das Klirren der zerberstenden Scheiben, das Ertönen der Alarmanlage, die Sirenen der Polizeifahrzeuge sind das Konzert. Wir haben das wirklich umgesetzt - als künstlerischen Akt. Die Schweden haben das nicht weiter verfolgt. Aber in Österreich galt die Aktion als Sachbeschädigung. Die Staatsgewalt sagte: Was ein Inländer im Ausland macht, wird nach inländischen Gesetzen verfolgt.

Standard: Und Sie wurden in Österreich verurteilt?

Weibel: Der Kaltenbeck schon, aber ich nicht. Weil ich mich juristisch auskannte. Ich vermied, dass das Konzert als bewusste Sachbeschädigung angesehen werden konnte. Ich sagte vor Gericht: Nach meinen Berechnungen war es nicht absehbar, dass die Glasscheibe zerbricht.

Standard: Am 7. Juni jenes Jahres nahmen Sie an der Aktion „Kunst und Revolution" in der Uni Wien teil. Sie hielten mit einem brennenden Handschuh eine "Brandrede" gegen die damalige Regierung. Die Schimpftirade trug den Titel "Was tun?" - Das klingt ziemlich aktuell. 1968 konnten die Intellektuellen Unglaubliches bewegen. Heute haben sie keine Macht mehr?

Weibel: Es fehlt an Intellektuellen - und es gibt keine Politiker mehr, die den Intellektuellen zuhören. Was man nicht vergessen darf: Den Geist der Opposition und Subversion gab es schon vor dem Zweiten Weltkrieg, er wurde nur durch den Faschismus vertrieben und kam dann wieder zurück. Heute gibt es aber niemanden, der aus dem Exil zurückkommt. Wir haben nur mehr einen 94-jährigen Résistance-Kämpfer, Stéphane Hessel. Er sagt: Wir, die Befreier Europas von der faschistischen Diktatur, wollen nicht zuschauen, dass das, wofür wir gekämpft haben, jetzt untergeht. Hessel hat zwar Beststeller geschrieben, aber er kann keine Studenten beeindrucken. Die Menschen stellen die gleiche Frage: "Was tun?" Er sagt: "Empört Euch!" Aber es hat keinen Effekt mehr. Hessel wird viel mehr von denen, die er in seinen Streitschriften angreift, eingeladen, vor ihnen zu sprechen. Das System ist heute stärker als seine Elemente. Früher glaubte man, dass Individuen etwas im System bewirken können. Heute ist das nicht mehr möglich. Das System ist so stark, dass selbst die Kritik am System dieses nur stabilisiert.

Standard: Was also tun?

Weibel: Heute ist das Denken nur darauf ausgerichtet, das System zu stabilisieren. Man darf die Bank X nicht bankrott gehen lassen, denn sonst würde das System implodieren. Jede Idee, die das System in Frage stellt, wird gnadenlos gelöscht - nicht nur in China und Russland, sondern auch in westlichen Demokratien. Und es werden immer nur Versprechungen oder Verträge gemacht, die bei Bedarf gebrochen oder aufgelöst werden. Die EU ist so zu einer Abkürzung für Euphemismus geworden, d.h. Krisen schönzureden und schönzufärben. Aber die Rettungsschirme reichen dann doch nicht. Es entsteht der Eindruck, dass keiner mehr Herr der Lage ist. Warum? Weil es ein Kompetenzproblem gibt. Wir leben in einer überforderten Gesellschaft. In einem offenen, demokratischen System werden aufgrund vorhandener Kompetenzen Entscheidungen getroffen, die rational begründbar sind. In geschlossenen, autoritären Systemen ist Kompetenz vernichtet worden, daher werden Entscheidungen unbegründet, d.h. willkürlich, subjektiv, eben autoritär durchgesetzt. Ein Symptom für solche autoritären Systeme sind zu viele Hierarchien, zu viele Office-Politics, zu viele Meetings. Die heutige Gesellschaft macht Mitbürger zu Mitläufern. Diese profitieren vom System, und daher dienen sie dem System. Der Preis ist die Ausgrenzung und das Entstehen neuer Feindbilder, die zur Vernichtung von Teilen der Gesellschaft führen. Deshalb sprechen wir von "Postdemokratie".

Standard: Slavoj Zizek meinte kürzlich in seiner Londoner Rede, wir können uns den Untergang der Welt vorstellen, aber nicht den Untergang des Kapitalismus.

Weibel: Richtig. Und Zizek sagt zu recht, wie der Titel eines seiner Bücher lautet: Wir sind im Moment "Auf verlorenem Posten". Es gibt aber eine Hoffnung: Dass auch die stärksten Systeme verborgen einen Moment der Instabilität haben. Um 1900 zum Beispiel hat niemand das Potenzial des Marxismus erkannt. Man dachte, dass man zusammen mit der Kirche die Bauern und Arbeiter niederhalten kann.

Standard: Nur wir haben diesen Moment der Instabilität noch nicht erkannt?

Weibel: Genau. Wenn wir ihn erkennen, können wir das System sprengen. Man versucht daher mit hektischen Manövern, die verborgenen Fehlerquellen zu kaschieren - zum Beispiel mit Finanztransaktionen. Das Problem ist: Je länger es dauert, bis das System implodiert, desto höher sind die Kosten. Die Armut wird steigen, damit steigt in der Gesellschaft das Konfliktpotential. Denken wir doch nur an die Attentate in Norwegen und Lüttich. Man kann es sich einfach machen und sagen: Anders Brevik und Nordine Amrani sind geisteskranke Individuen. Aber diese Attentäter nahmen Tendenzen, Slogans, Gedankengut auf. Brevik hat ein Manifest mit 1500 Seiten geschrieben. Und durch ihre psychische Kondition wurde dieses Gedankengut verzerrt. Amrani und Brevik hätten es aber nicht verzerren können, wenn nicht etwas zum Verzerren da gewesen wäre. Jetzt versucht man, Menschen wie Brevik zu isolieren - und übersieht, dass das Pathologische nicht in ihnen, sondern in der Gesellschaft ist. Sie sind nur das Fieberthermometer. Wenn wir nicht bald eine Lösung finden, werden solche Attentate zunehmen. Und das wäre für mich ein Symptom für die sich abzeichnende Instabilität des Systems.

Standard: Wäre es nicht hoch an der Zeit, dass der Künstler Weibel wieder mehr in Erscheinung tritt?

Weibel: Es wäre an der Zeit - und ich habe es vor. Ich habe jetzt auch mehr Zeit, da man mich aus Graz vertrieben hat. Es gibt zudem mehrere Angebote von Institutionen in Wien und in den Bundesländern, Ausstellungen zu kuratieren. Ich werde einige annehmen, aber ich nehme die "Grazer Verhältnisse", das Versagen der Zivilgesellschaft, des Bürgertums, des Rechtsstaats in Österreich zum Anlass, mich aus diesem Land zurückzuziehen.

Standard: Sie waren seit 1992 Chefkurator der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum. Peter Pakesch, der Intendant, verzichtet auf Ihre weitere Mitarbeit.

Weibel: Das ist freundlich ausgedrückt. Alle wichtigen Politiker - vom Bundespräsidenten bis zum Landeshauptmann - wurden über die Vorgänge informiert, aber keiner hat den Willkürakten von Pakesch Einhalt geboten. Daher habe ich wenig Interesse, mich in so einem Land künstlerisch zu engagieren.

Standard: Klingt da nicht gekränkte Eitelkeit mit?

Weibel: Nein. Es geht nicht um mich. Es geht darum, wie in der Kultur durch die Politik persönliche Willkürakte, Inkompetenz und das Nicht-Demokratische gefördert werden. Christa Steinle zum Beispiel hat sich kein Fehlverhalten zu Schulden kommen lassen, im Gegenteil. Die Neue Galerie war unter ihrer Leitung eines der wichtigsten Ausstellungshäuser in Mitteleuropa. Man hat sie aber unbegründet abgesetzt, in Zwangsurlaub geschickt und ihr den Schlüssel weggenommen. Sie wurde "wie Müll behandelt", wie Elfriede Jelinek dies kommentiert hat. Sie wurde abgesetzt, nur weil sie gute Arbeit geleistet hat, auf die man eifersüchtig ist. Das hat mich empört. Und ich habe diese Empörung artikuliert. Daraufhin wurde ich gefeuert. Die Inkompetenz setzt sich gegen die Kompetenz autoritär durch. Das Ergebnis ist: 2012 gibt es keine Wilhelm-Thöny-Retrospektive von Christa Steinle, wie geplant, sondern zwei Ausstellungen, die sich Pakesch gewünscht hat: Michelangelo Pistoletto und Maria Lassnig. Pistoletto kuratiert Pakesch selbst. Und erst vor fünf Jahren gab es unter der Leitung von Pakesch im Grazer Kunsthaus eine Lassnig-Ausstellung. Meiner Meinung nach benutzt Pakesch das Joanneum, eine Institution der öffentlichen Hand, für seine Zwecke. Er bemüht sich nämlich seit einiger Zeit, dass die Galerie Hauser & Wirth den Nachlass von Maria Lassnig bekommt. (Thomas Trenkler/DER STANDARD, Printausgabe/Langfassung, 19. Dezember 2011)