Bild nicht mehr verfügbar.

Václav Havel 1997: "Unsere größte Sünde ist der Hochmut"

Foto: AP/Josek

Das schwärzeste Jahr der EU geht mit dem Tod eines glühenden Europäers zu Ende.

*****

Wenn man Václav Havel eine Frage stellte, dann wandte er den Blick zunächst ab, aber eigentlich nach innen. Gegen Ende seiner Amtszeit als tschechischer Staatspräsident gab Havel im November 2002 Vertretern europäischer Zeitungen auf dem Prager Hradschin ein Interview. Kann man als Politiker in der Wahrheit leben, wollte der STANDARD wissen, in Anspielung auf Havels berühmten Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben.

Havel dachte einige Zeit nach, ehe er antwortete: "Ein Politiker sollte sich, wie jeder andere Bürger, an die Wahrheit halten und auch in Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst leben. Aber es stimmt, dass man in einem politischen Amt manchmal eine mehr diplomatische Sprache verwenden muss. Und ich freue mich auf die Zeit, wenn ich das nicht mehr tun muss."

Wochen zuvor hatte hatte Havel in einem öffentlichen Auftritt an der New York University aber auch etwas anderes gesagt: "Ich scheine mir selbst gegenüber mehr und mehr im Zweifel." In diesem Sinn hat Havel während der elf Jahre, die ihm dann noch geblieben sind, nicht mehr und nicht weniger in der Wahrhaftigkeit gelebt als in seinen früheren Lebensabschnitten.

Staatsfeind und Präsident

Das Absurde und Widersprüchliche bestimmte nicht nur das Werk des Dramatikers, sondern auch das Leben des Homo politicus Havel. Als einer der Hauptinitiatoren der Charta 77 nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 war Havel Staatsfeind Nummer eins. Dazu brachte er schon als Spross einer großbürgerlichen Prager Familie "beste" Voraussetzungen mit. Trotz aller Brutalität der Verfolgung durch das Regime und der insgesamt fünf Jahre Haft nahm das Katz-und-Maus-Spiel des Dissidentenkreises um Havel mit dem Geheimdienst mitunter absurde Züge an.

Mit dem Erfolg der Samtenen Revolution 1989 kulminierte das reale politische Theater in einem historischen Augenzwinkern, wie es wohl nur in der Welt von Schwejk und Kafka vorstellbar ist. Ende Oktober sagte der kommunistische tschechoslowakische Regierungschef Ladislav Adamec zu österreichischen Journalisten in Prag: "Für mich ist Havel eine Null." Eine Woche später war Havel Staatspräsident, gewählt von den KP-Abgeordneten.

Versuch, in der Wahrheit zu leben: Schon kurz nach seinem Amtsantritt äußerte Havel öffentlich Bedauern über das Leid, das den Sudentendeutschen bei der Vertreibung 1945 angetan worden war. Damit brach er ein innenpolitisches Tabu und schuf sie die Voraussetzung für die deutsch-tschechische Versöhnungserklärung von 1997. Etwas Vergleichbares mit Österreich ist nicht gelungen - und sicher nicht aus Havels Schuld.

Was ein über Jahre beherrschendes Thema der Beziehungen zwischen Prag und Wien betrifft, das AKW Temelín, so musste sich der Atomkraftgegner Havel der tschechischen Staatsräson beugen. In der Affäre um mutmaßliche Kontakte des späteren Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk zum kommunistischen Geheimdienst gab sich Havel sehr zurückhaltend. Bei Zilks Begräbnis 2008 sagte er: "Vielleicht haben wir ihm aufgrund unserer Unkenntnis auch Unrecht getan, vielleicht haben wir ihn verletzt und ich möchte mich im Namen der Tschechen bei ihm entschuldigen."

Havels größte innenpolitische Niederlagen waren die Teilung der Tschechoslowakei Anfang 1993 und der Aufstieg seines einstigen Verbündeten und späteren Gegenspielers Václav Klaus. Beides konnte er nicht verhindern. Mit Klaus folgte ihm im Präsidentenamt der Gegenentwurf eines Politikers: Ein Machttechnokrat löste den Moralisten ab.

"Größte Sünde Hochmut"

Widersprüche, Zweifel, Selbstzweifel: In zwei Punkten kannte Havel sie nicht: In der Überzeugung, dass der Mensch in erster Linie selbst verantwortlich ist für das, was er tut oder nicht tut. Und im Glauben, dass nur ein einiges, starkes Europa die enormen Herausforderungen dieser Zeit bestehen kann. "Unsere größte Sünde ist der Hochmut" , sagte er 1997 in einer Rede vor dem Parlament und spielt dabei nicht nur einen Parteispendenskandal an, in den Klaus verwickelt war, sondern auf die Selbstgenügsamkeit seiner Landsleute, die im Reformprozess zurückgefallen seien.

Der Satz könnte auch auf den heutigen Zustand Europas gemünzt sein. Dass das schwärzestes Jahr seit Bestehen der Europäischen Union mit dem Tod eines der engagiertesten Europäer des 20. - und 21. - Jahrhunderts zu Ende geht, kann man als weiteres, Augenzwinkern der Geschichte interpretieren, wenn auch kein sehr amüsantes. (Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 19.12.2011)