DER STANDARD-
Schwerpunktausgabe Patchwork

Soziologin Ulrike Zartler über Formen der Patchworkfamilie.

Foto: privat

Patchwork-Familien sind kein neues Phänomen. Vermutlich waren sie in historischen Zeiten häufiger. Während aber früher meist ein verstorbener Elternteil "ersetzt" wurde, geht es heute meist um eine Erweiterung der Familie durch neue Partner ("Stiefeltern"), Halb- und Stiefgeschwister oder Großelternteile.

Stiefvater, Stiefmutter, Halbschwester - diese Begriffe klingen wie aus Grimms Märchen und sind negativ besetzt. Neue, unbelastete Begriffe gibt es bislang nicht. In der Wissenschaft werden Begriffe wie Stieffamilie, Folge-, Zweit- oder Fortsetzungsfamilie verwendet. Außerdem spricht man von biologischen und sozialen Elternteilen, multipler oder fragmentierter Elternschaft. Im Alltag hat sich der Begriff "Patchwork-Familie" durchgesetzt, der in der Forschung nur zögerlich verwendet wird.

Quasi-, Sozio-, Plus- und Pro-

Noch komplizierter ist es, Begriffe für die neuen Personen und Verwandtschaftsverhältnisse zu finden. Wie könnte man die Großeltern des Halbbruders benennen? Oder die Schwester der Stiefmutter? Die Redaktion der Zeit beauftragte eine Branding-Agentur damit, Begrifflichkeiten für komplexe Familienverhältnisse zu finden. Die Vorsilbe "Ko-" schnitt am besten ab (Ko-Mutter, Ko-Vater, Ko-Schwester); auf den Plätzen landeten Quasi-, Sozio- und Beinahe-. Für Halbgeschwister wurde der Begriff "Cosy" favorisiert (für Bruder und Schwester zu verwenden), dicht gefolgt von Ad-Bruder, Plus-Schwester und Pro-Bruder. Der Familientherapeut Jesper Juul schlägt den Begriff Bonus-Eltern vor, um positive Assoziationen zu unterstützen.

Patchwork-Familien werden statistisch als Familien definiert, in denen Elternteile mit ihren Kindern aus früheren Beziehungen in einer Ehe oder Lebensgemeinschaft zusammenleben. Nach dieser Definition ist etwa jede zehnte Familie mit Kindern eine solche. Mehr als die Hälfte dieser Familien (53 Prozent) sind sogenannte einfache Stieffamilien, in die nur ein Partner Kinder einbringt. In 44 Prozent der Familien wohnen neben eigenen Kindern der Partner auch gemeinsame Kinder (komplexe Stieffamilie). In drei Prozent der Familien bringen beide Partner Kinder mit, es gibt aber keine gemeinsamen Kinder (zusammengesetzte Stieffamilie).

Stiefvaterfamilien am häufigsten

Während früher durch hohe Müttersterblichkeit Stiefmutterfamilien stark verbreitet waren, sind heute Stiefvaterfamilien am häufigsten, in welchen die leibliche Mutter mit Kind(ern) und neuem Partner lebt. Sie machen 48 Prozent der Patchwork-Familien aus, während nur fünf Prozent Stiefmutterfamilien sind.

In Patchwork-Familien sind die Partner besonders häufig unverheiratet (44 Prozent). Da die Trennungswahrscheinlichkeit bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften deutlich höher ist als bei Ehen, haben die Mitglieder von Patchwork-Familien auch ein höheres Risiko, eine (weitere) Trennung zu erleben. Das kann für die beteiligten Erwachsenen belastend sein und ist auch für Kinder relevant: Forschungsergebnisse zeigen, dass das Erleben mehrerer Wechsel von Familienkonstellationen nachteilig für die kindliche Entwicklung ist.

Wie stellt sich die Situation aus Kindersicht dar? Ungefähr jedes zehnte österreichische Kind lebt in einer Patchwork-Familie, aber nur zwei Drittel davon sind "Stiefkinder" (also Kinder, die mit einem leiblichen und einem nicht-leiblichen Elternteil leben). Ein Drittel wächst als gemeinsames Kind des "neuen" Paares auf. Diese Differenzierung ist wichtig, da Stiefkinder oft eine schwierigere Position haben und eventuell mehr (elterliche) Unterstützung brauchen als gemeinsame, im Patchwork aufwachsende Kinder.

Nicht erfasst

In der Statistik nicht erfasst und auch von den beteiligten Personen häufig übersehen wird, dass Kinder nach einer elterlichen Trennung oft mehrfach mit Stiefeltern konfrontiert sind. Geht zum Beispiel der geschiedene Vater, bei dem das Kind jedes zweite Wochenende verbringt, eine neue Partnerbeziehung ein, so erlebt das Kind eine weitere Patchwork-Situation. Wie viele solcher sekundären Patchwork-Familien es gibt, kann aufgrund der Datenlage nicht gesagt werden.

Patchwork-Familien erinnern an das Bild vom "Fleckerlteppich". Sie vereinen eine Vielfalt an Personen, Lebensweisen und Einstellungen. Dennoch gibt es gemeinsame Merkmale: Patchwork-Familien sind komplexer und umfassen mehr Personen, zwischen denen eine größere Vielfalt an Beziehungen, Geschichten und Erfahrungen aus anderen Familien besteht. Die Eltern-Kind-Beziehung existiert bereits, bevor die Partnerbeziehung beginnt. Biologische und soziale Elternschaft fallen auseinander, und für die Gestaltung der Stiefelternrollen gibt es kaum Vorgaben.

Daraus ergibt sich: Vergangene Verluste durch Scheidung oder Tod wollen verarbeitet, die Trennung von Paar- und Elternebene ebenso wie der Umgang mit den anderen involvierten Elternteilen gelernt werden. Beziehungen müssen definiert, Rollen ausverhandelt und familiäre Regeln festgelegt werden. Rechtlich wurden mit dem Familienrechtsänderungsgesetz 2009 die Beziehungen in Patchwork-Familien bereits normiert. (Ulrike Zartler/DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.12.2011)