DER STANDARD-
Schwerpunktausgabe Patchwork

Melanie Mühl (35), Scheidungskind: "Als Kind aber schaut man nach hinten. Man wollte sich nichts Neues auf- bauen."

Foto: Hanser Verlag

Dorothee Golz: "Chair to Share", 2011. Jede Kombination ist möglich. Verrücken. Umstellen. Neu kombinieren. Nicht anders funktioniert Patchwork.

Foto: Klaus Fritsch

Sonntagabend bei Dunkin' Donuts am Berliner Hauptbahnhof: Melanie Mühl trinkt Cola mit Strohhalm aus dem Pappbecher. Lange braune Haare, Jeans und schicke Stiefel, neben ihr eine Weekend-Tasche für die Bahnfahrt zurück nach Frankfurt. Pop plärrt aus dem Lautsprecher über uns, Kinder schreien. Das Aufnahmegerät läuft tapfer gegen den Lärm ...

Standard: Frau Mühl, Ihr Buch hat in Deutschland für Aufregung gesorgt. Was hat Sie veranlasst, so ein streitbares Buch zu schreiben?

Mühl: Ich bin in einer Patchwork-Familie groß geworden. Ich war zehn, als sich meine Eltern getrennt haben. Mein Bruder und ich sind dann mit der Mutter von Stuttgart in die Nähe von Bayreuth gezogen. Mein Vater hat mit seiner neuen Frau noch ein Kind bekommen, sie leben in der Nähe von Hamburg. Es gab ein Nord-Süd-Gefälle. Das hat mich geprägt. Aufgeregt hat mich, als unser neuer Bundespräsident mit seiner Patchwork-Familie in das Schloss Bellevue gezogen ist. Die Inszenierung hatte was Penetrantes. Da hatte ich andere Erfahrungen mit Patchwork gemacht. Da dachte ich: Ich recherchiere das. Im Boulevard und im Fernsehen ist Patchwork immer bunt. Dabei würde sich das Thema gut als dramaturgischer Stoff eignen, weil es so viele Konfliktfelder gibt. Aber das wollen die Sender nicht.

Standard: Wenn man Ihr Buch liest, bekommt man den Eindruck, dass hier Kritik an der medialen Vermittlung von Patchwork mit der Kritik an der Patchwork-Familie selbst verwechselt wurde ...

Mühl: ... es gab diesen Einwand, dass ich Wirklichkeit und Medien vermische. Im Nachhinein habe ich mich gefragt, ob der Titel zu hart gewählt war. Es fühlten sich viele angegriffen. Es ist eine Streitschrift und sicher zugespitzt. Ich weiß, dass Patchwork auch funktionieren kann, aber auch aus eigener Erfahrung, wo die Schwierigkeiten liegen. Ich fand es bedenklich, dass medial kaum über Probleme gesprochen wird. Scheitern ist nicht erlaubt. Wenn die mediale Vermittlung differenzierter wäre, würden die Leute sagen: Wir brauchen Hilfe! Die Gesellschaft teilt sich stark, in jene, die vor Therapie Angst haben und jene, die damit kokettieren.

Standard: Menschen, deren Familie gerade auseinanderbricht, sehen das als Scheitern. Ihr Buch tut so, als wäre das nicht der Fall.

Mühl: Ich habe das nicht aus Kalkül getan. Früher dachte ich auch, ich könnte diese Kiste für mich schließen. Aber ab einem gewissen Alter beginnt man sich mit der eigenen Geschichte zu befassen, fühlt sich zurückgeworfen. Da stellen sich existenzielle Fragen.

Standard: Welche?

Mühl: Etwa: Was bedeutet einem Weihnachten, und warum wäre man lieber ein Tier im Winterschlaf. Warum ändert sich das mit den Jahren nicht? Ich hatte immer Beziehungen zu Menschen aus intakten Familien. Viele Geschwister, enge Bindungen, Grundvertrauen. Ich fand das toll, aber bemerkte auch den großen Unterschied zwischen solchen Familien und meiner eigenen. Die Patchwork-Lüge habe ich über Weihnachten geschrieben, zurückgezogen auf einem Schloss in Ostdeutschland. Vielleicht ist es deshalb so hart geworden.

Standard: Dann hatte es auch einen therapeutischen Zweck.

Mühl: Klar, Schreiben hat immer etwas Therapeutisches. Ich habe bewusst auf die Ich-Perspektive verzichtet, das wäre reine Betroffenheitsprosa geworden. Als das Buch erschien, war ich überrascht, wie heftig die Reaktionen ausfielen und wie sehr ich offenbar gegen den Mainstream angeschrieben habe.

Standard: In Ihrem Buch zitieren Sie den Satz: "Two parents, even unhappy, are better". Also: Für die Kinder auf alle Fälle zusammenbleiben. Wäre das Ihre Lösung?

Mühl: Nein, ich bin gegen die Vernunftehe. Ich glaube nur, dass wir heute vielfach falsche Vorstellungen haben. Mit diesem Buch habe ich mich auch gefragt, was ich mir selbst erwarte. Was steht mir zu? Was erwartet sich der andere? Wenn man sich trennt, ist es wichtig, auf den Preis zu schauen. Meine Eltern haben alles dafür getan, dass es mir gut geht, und sie haben richtigerweise nach vorn geschaut und sich was Neues aufgebaut. Als Kind aber schaut man nach hinten. Man wollte sich nichts Neues aufbauen.

Standard: Sie zitieren eine Anwältin, die meint, dass Paare heute viel zu schnell einen Schlussstrich ziehen. Ab wann darf man?

Mühl: Das ist schwierig und sehr individuell. Aber ich denke, für die Entscheidung Kind oder kein Kind, sollte man sich eingehend prüfen. Wenn Kinder im Spiel sind, ändert sich alles. Ich verstehe mein Buch als Plädoyer für mehr Verbindlichkeit. Wie hoch ist der Preis für mehr Flexibilität? Können, wollen wir den zahlen? Mein Kapitel über die Scheidungskinder selbst ist das Entscheidende, darüber wurde im Vergleich wenig gesprochen.

Standard: Lassen Sie uns das nachholen. Würde das stimmen, was Sie über die Lebensperspektiven von Scheidungskindern geschrieben haben, dürften Sie nicht hier sitzen: Sie hätten nicht studiert, wären in keinem guten Job gelandet usw. Sie sind das beste Gegenbeispiel Ihrer eigenen Thesen.

Mühl: Das alles basiert auf seriösen Studien. Zu meiner Biografie muss ich sagen: Es gab Situationen, die hätten schiefgehen können. Ich war schlecht in der Schule, es gab Zeiten großer Verlorenheit. Scheidungskinder stehen unter Druck. Das Elternhaus zerbricht, sie müssen ihre Welt neu sortieren und weiter funktionieren. Ein Kinderpsychiater hat mir gesagt, er wisse nicht mehr, in welche Klinik mit den jungen Patienten, weil der Bedarf so hoch ist. Darüber muss man reden. Scheidungskinder haben es, was spätere Beziehungen betrifft, schwerer. Die Scheidungsraten liegen bei ihnen doppelt so hoch. Logisch: Man reinszeniert, was die eigenen Eltern verbockt haben, obwohl das das Letzte ist, was man eigenen Kindern antun will.

Standard: Was würden Sie heute familienpolitisch einfordern?

Mühl: 90 Prozent aller Alleinerziehenden sind Mütter. Man tut immer so, als wäre das mit der Gleichberechtigung schon gelungen. Wenn es hart auf hart kommt, sind es Frauen, an denen vieles hängenbleibt. Im Schnitt verdienen Frauen immer noch um 20 Prozent weniger als Männer, und sie werden überhaupt nicht begünstigt, weder steuerlich noch familienpolitisch. Es gibt eine Reihe eigenartiger Bestimmungen, etwa, dass Alleinerziehende ab dem 3. Lebensjahr des Kindes Vollzeit arbeiten müssen, wenn sie einen Kitaplatz haben wollen. Wann haben diese Frauen noch Zeit für sich und ein neues Leben, während viele Väter jedes zweite Wochenende den Papi spielen. Die werden jetzt auch noch mit besseren Väterrechten ausgestattet. Da muss man schon genau hinschauen und sich fragen: Wer hat die Arbeit? Das sind noch immer die Frauen.

Standard: Sie schreiben recht polemisch über die neuen Väter. Verbinden Sie damit nicht eine Hoffnung, dass die vaterlose Gesellschaft ein Ende findet?

Mühl: Ich denke, dass sich die Situation verbessert hat. Aber es gibt Studien, die besagen, dass Männer mit Kindern mehr Zeit in der Arbeit verbringen als Männer ohne Kinder. Das ist interessant. Wenn man über die neuen Väter spricht, bekommt man das Gefühl, als hätten die ihren Job schon erledigt. Für Lobgesang ist es noch zu früh! Denn, wenn Familien auseinanderbrechen, dann sind die neuen Väter auch sehr schnell wieder die alten Väter.

Standard: Was wollten Sie mit "Der Patchwork-Lüge" erreichen?

Mühl: Ich wollte eine Debatte auslösen. Das ist passiert. Heute würde ich mehr darauf achten, in welcher Verfassung ich beim Schreiben bin. Denn da war auch viel Wut dabei. Aber die ist ein Motor.

Standard: Wie ist das in Ihrer Familie angekommen?

Mühl: Meine Mutter fand es toll - und traurig. Auch mein Vater, von dem ich nicht wusste, ob er's gelesen hatte, rief an und sagte, er sei froh, dass es keine Abrechnung geworden ist. Da dachte ich, ob ich vielleicht zu harmlos war (lacht).

Standard: Ihr Buch wirft viele wichtige Fragen auf, aber kommt zu wenig Lösungen.

Mühl: Es ist kein Ratgeber. Ich glaube, bevor wir zu Lösungen kommen, muss man Zustände konstatieren. Ich weiß, ehrlich gesagt nicht, was die Lösung ist. Vielleicht eine andere Liebesidee.

Die FAZ-Redakteurin hat sich warm geredet. "Verstehen Sie sich denn mit ihren Eltern?", fragt Mühl nach 90 Minuten Interview die Interviewerin. Es folgt der Austausch zweier Scheidungskinder über ihre Erfahrungen ... Zum Schluss sagt sie, als das Tonband nicht mehr läuft, dass sie wahrscheinlich nie so selbstständig und erfolgreich geworden wäre ohne diese Scheidungserfahrung. Ihre letzten Sätze: "Man muss reden. Das ist es, worum es mir geht: Die Kinderperspektive. Man ist so klein und versteht es nicht!" Und nach einer kleinen Pause: "Schwieriges Thema, oder?" Dann muss sie zum Zug. (Mia Eidlhuber/DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.12.2011)