Claudius Stein vom Kriseninterventionszentrum Wien warnt vor Nachahmungen infolge des "Werther-Effekts".

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1.261 Menschen haben sich in Österreich im Jahr 2010 das Leben genommen, 968 Männer und 293 Frauen. Durch Suizid sterben doppelt so viele wie durch Verkehrsunfälle, erklärte Claudius Stein vom Kriseninterventionszentrum bei einer Veranstaltung des österreichischen Presserates und der Wiener Linien zum Thema Medienberichterstattung über Suizide. Psychotherapeut Stein verortet Medien in einem Spannungsfeld zwischen Aufklärungspflicht und Verantwortungsbewusstsein. "Journalisten können helfen, Suizide zu verhindern", ist er überzeugt und plädiert für eine enttabuisierende, nüchterne Berichterstattung.

Nachahmung versus Prävention

Bei Suizidfällen, die ihren Niederschlag in Medien finden, ließen sich zwei Effekte beobachten, erläutert Stein. Erstens der so genannte "Werther-Effekt", der auf Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werthers" zurückgeht und einen kausalen Zusammenhang zwischen thematisierten Suizidfällen und Nachahmungen sieht. Nach Veröffentlichung des Buches kam es zu einem Anstieg von Suiziden, einige kleideten sich wie die Figur des Werthers, bei anderen wurde das Buch gefunden. Das Gegenteil spiegelt sich im "Papageno-Effekt" wider, wo aufgrund sensibler Berichterstattung Leute ermutigt werden, sich Hilfe zu suchen, indem auf Alternativen hingewiesen wird.

Anstieg nach TV-Serie

Genau um diese Alternativen geht es, sagt Stein, denn Suizid sei keineswegs immer Ausdruck einer Krankheit, sondern könne am Ende einer veritablen psychosozialen Krise stehen. Als Negativbeispiel nennt er die im Jahr 1980 vom ZDF produzierte Serie "Tod eines Schülers", die den Schienensuizid eines Maturanten behandelte. Nach der Ausstrahlung stieg die Suizidhäufigkeit bei männlichen Jugendlichen um 175 Prozent - in Verbindung mit Zügen. Auch bei der Zweitausstrahlung wurde eine Steigerung um 115 Prozent beobachtet. Ein eindeutiger Beweis für einen Nachahmungseffekt.

80 Prozent der Menschen, die einen Suizidversuch unternehmen, machen das nur einmal im Leben. 20 Prozent fallen in die Kategorie chronische Suizidalität, "die sind immer wieder gefährdet". Nach Bewältigung der Krise sei nämlich bei den meisten die suizidale Zeit vorbei, so Stein. Projektionsflächen zu eliminieren, hält er deswegen für einen wichtigen Schritt. Als Risikogruppen in puncto Imitationsverhalten gelten vor allem Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.

Appell, nicht mehr zu berichten

Als Beispiel für gelungene Prävention werden die Wiener Linien genannt. Anfang der 80er Jahre waren U-Bahn-Suizide häufig Thema, bis man sich ein paar Jahre später mit Empfehlungen an die Medien wandte, über diese Suizide und Suizidversuche nicht mehr zu berichten. Das Ergebnis war ein signifikanter Rückgang um bis zu zwei Drittel. Seit dieser Maßnahme stagniert die Zahl auf diesem Niveau.

Steins Empfehlung: alle Berichte, die in einer Erhöhung der Aufmerksamkeit resultieren, seien strikt abzulehnen. Manifest werde dies, wenn Details zur Person, Details zur Suizidmethode oder Details zum Suizidort genannt werden. Weiters warnt er vor Heroisierung der Personen, das schaffe Identifikationspotenzial. "Je sympathischer, desto größer die Gefahr eines Imitationseffekts."

Keine einfachen Erklärungen

Einfache Erklärungen wie "er nahm sich das Leben, weil sich seine Freundin von ihm trennte" seien fatal. Ein Suizid könne normalerweise nie die Konsequenz eines einzigen Ereignisses sein, sondern eine Verkettung von Umständen führe dazu. An die Medien appelliert er, keine Abschiedsbriefe und Fotos zu veröffentlichen. Begriffe wie "Freitod" statt Suizid sollten vermieden werden, da dies zu einer Romantisierung der Tat führe. Im Idealfall sollten alle Berichte mit konkreten Hilfsangeboten versehen sein, etwa mit Hinweisen auf die Telefonseelsorge oder das Kriseninterventionszentrum.

Boulevardmedien betreffen die meisten Beschwerden

"Die meisten Beschwerden betreffen Boulevardmedien", sagt Ella Wassink vom deutschen Presserat. Nämlich 23 von 43 Beschwerden, die in den vergangenen zwölf Jahren an das Gremium in Zusammenhang mit Suizidberichterstattung herangetragen wurden. Ein Problem konstatiert sie vor allem bei Regionalmedien, die aufgrund der örtlichen Nähe glauben, zu sehr ins Detail gehen zu müssen. Ähnlich wie beim Pendant in Österreich ist beim deutschen Presserat die öffentliche Rüge das härteste Sanktionsmittel. Verlage, die Mitglieder des Rates sind, müssen das Urteil im Medium veröffentlichen.

Tiefpunkt

Diesen Selbstregulierungsmechanismus bekam vor einigen Jahren etwa das Nachrichtenmagazin "Stern" zu spüren. Rund um den Suizid von Hannelore Kohl, der Kanzlergattin, tauchten Spekulationen über das Motiv auf, abstruse Gerüchte wurden kolportiert. Der Fall, bei dem die Grenzen wohl am weitesten überschritten wurden, betraf einen Suizidenten, der sich von einem Gebäude stürzte. In Zeitungen wie "Bild" und der Münchner "Abendzeitung" wurden Fotos publiziert, die den Mann kurz vor seinem Sprung zeigten. Zum Teil in chronologischer Abfolge, begleitet vom Titel "Gleich springt er vom Dach". Eine ganze Reihe an Persönlichkeitsrechten wurde verletzt.

"Journalisten stecken in einem Dilemma", meint Wassink, "sie sollen uninformativ, uninvestigativ und unattraktiv berichten". Das kollidiere mit dem journalistischen Selbstverständnis. "Da beginnt das Problem."

Großes Medieninteresse

Ein anderer Fall war Robert Enke, der deutsche Teamtormann, der sich 2009 das Leben nahm. Natürlich bestehe großes öffentliches Interesse an umfassenden Berichten, räumt sie ein, dennoch müssten Grenzen gezogen werden. Die genaue Todesursache zu kommunizieren sei legitim, mit Bildern die letzten Stationen vor dem Suizid zu illustrieren oder Fotos vom Todesort zu veröffentlichen, hält sie für fehl am Platz. Eine öffentliche Rüge wurde allerdings nur gegen das Satiremagazin "Titanic" ausgesprochen, das mit pietätlosen Witzen für Ärger sorgte.

Für Wassink ist das eine Frage von "Verantwortungsethik", die gerade wieder vor kurzem verletzt wurde, als der Suizid von drei Mädchen detailliert geschildert wurde. Hinweise auf den Suizidort seien ebenso problematisch wie das genaue Beschreiben der Methode. Da könne wie eine "Anleitung" fungieren. Dass Medien in einer Art freiwilliger Selbstbeschränkung prominente Suizidenten wie Hannelore Kohl, Robert Enke oder Gunter Sachs nicht auf ihre Titelseite hieven, sei illusorisch, glaubt Wassink. Das Regulativ sei ausreichend. Es gehe nicht darum, ob berichtet wird, sondern wie.

Leitfaden zur Orientierung

Unsensible Berichte seien nicht immer die Folge von Sensationsgier, sondern oftmals schlicht und einfach von Unwissenheit, meint Christina Lechner, Psychologin und freie Journalistin. Der vom Kriseninterventionszentrum empfohlene "Leitfaden zur Berichterstattung über Suizid" sei vielen Redakteuren unbekannt. "Suizid hat kein Ressort", sagt Lechner, jeder Journalist könne damit konfrontiert werden. Und: "Medien prägen und verstärken Einstellungen, wenn Suizid als akzeptable Lösung dargestellt wird."

Die jüngste Verfehlung sieht Lechner in einigen Artikeln, die sich mit dem Ende des Assistenzeinsatzes des österreichischen Bundesheeres im Burgenland beschäftigen. In vielen Resümees spielt die Suizidstatistik eine nicht unwichtige Rolle. Ein Thema, das nicht im Vordergrund stehen sollte.

Fall Ludwig Hirsch

Viel Anlass zur Kritik bot auch der Tod von Ludwig Hirsch, der sehr detailliert ausgeschlachtet wurde. Der Suizid wurde primär mit seiner melancholischen Persönlichkeit und seiner schweren Krankheit in Zusammenhang gebracht. "Es gibt aber genügend melancholische Leute, die sich nicht das Leben nehmen", sagt Claudius Stein vom Kriseninterventionszentrum. Genauso wenig Personen, die mit schweren Krankheiten zu kämpfen haben. Den Suizid als Ausweg aus dieser Situation zu vermitteln, mache ein verheerendes Bild, so Stein: "Man bewegt sich auf einem sehr schmalen Grat." (om, derStandard.at, 19.12.2011)