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Dieses Bild von unzähligen Demonstranten wurde am 2. Dezember am zum Symbol gewordenen Tahrir-Platz aufgenommen.

Foto: REUTERS/Esam Al-Fetori

Angesichts der Ergebnisse der ersten Runde ist die Begeisterung sowohl bei vielen Ägyptern als auch bei Beobachtern vor der zweiten Runde der Parlamentswahlen, die am Mittwoch beginnt, gedämpft - und doch bleibt es eine Errungenschaft der ägyptischen Revolution, wenn sich die Wähler und Wählerinnen diesmal so ausdrücken können, wie sie wollen. Dass die islamistischen Parteien gemeinsam bisher bis zu zwei Drittel der Stimmen eingefahren haben, darf einen zumindest aus ägyptischer Sicht eigentlich nicht allzu groß wundern: Das Gesicht des Säkularismus unter den Regimen der vergangenen Jahrzehnte präsentierte sich für viele als Fratze, und der westliche Weg ist auch nur für jene a priori überzeugend, die abstrakt denken können: Hosni Mubarak war vieles, und unter anderem war er auch ein Mann der amerikanischen Ordnung in der Region. Es ist richtig, dass es bei der Revolution nicht darum ging, aber vergessen ist es nicht.

Aber vor allem hat den säkularen Parteien geschadet, dass sie sich nicht auf eine gemeinsame Botschaft und auf einen gemeinsamen Auftritt einigen konnten: Jeder vertrat vor allem sich selbst. Beim zweiten Anlauf wollen sie das besser machen: der Ägyptische Block, die Wafd, die Adl-Partei und die „Revolution dauert an"-Koalition versuchen sich nun in einigen Wahlbezirken zu koordinieren, einzelne säkulare Kandidaten zogen sich zugunsten anderer zurück, um die Stimmen nicht zu splitten. Viel mehr als Einzelerfolge sind dadurch aber nicht zu erwarten.

Der Ägyptische Block ist hinter der Muslimbrüderpartei FJP (Freiheits- und Gerechtigkeitspartei) und den Salafis nach vorläufigen Ergebnissen als schwacher Dritter ins Ziel gegangen, mit 14 von 150 Sitzen (73 gehen an die FJP, 31 an die salafistische Nur-Partei). Im Block ist die Partei „Freie Ägypter" von Naguib Sawiris dabei, die Kopten anziehen soll, und trotzdem hat sie nicht mehr eingefahren. Die Wafd - eine neu aufgestellte, traditionelle alte Oppositionspartei - gewann elf Mandate, die „Revolution dauert an"-Koalition, in der die Jugendbewegungen vertreten sind, die die Revolution getragen haben - und die bis jetzt den Widerstand gegen das Militär hochhalten, das seine Macht zementieren will - hat schwache vier Mandate, die Adl-Partei zwei. Diese Angaben stammen übrigens aus der englischen Internetausgabe von Al-Masry al-Youm: In den vergangenen Tagen wurde man mit verschiedenen Zahlen förmlich überschwemmt. Die Sieger der Personenlisten sind ja leicht festzustellen, bei den proportionalen Parteilisten (zwei Drittel der Wahlbezirke) sind die Berechnungen kompliziert.

Auch bei der kommenden Runde geht es wieder um neun von 27 Provinzen: Gizeh, Sohag, Beni Suef, Aswan, Sharqiya, Menufiya (Mubaraks Herkunftsprovinz), Beheira, Ismailiya und Suez. Auch diesmal wird zwei Tage lang gewählt, und eine Woche später gibt es die Stichwahl, wo nötig. Der regierende Oberste Militärrat (Scaf) hat angekündigt, dass die Kontrolle der Wahllokale verstärkt werden soll, denn einige Unregelmäßigkeiten gab es ja doch bei der ersten Runde.

Derweilen hat das große Rätselraten darüber begonnen, was denn die FJP beziehungsweise die Salafisten im Sinn haben, wenn sie einmal das Parlament dominieren. An eine völlige Umkehrung der Ergebnisse in den nächsten beiden Wahlrunden glaubt nämlich niemand. Aus dem Scaf kommen immer wieder unterschiedliche Signale, wie weit man dem Parlament das Schreiben einer neuen Verfassung überlassen soll. Die verschiedenen Stadien waren: gar nicht (das stipulierte das berühmte Selmy-Dokument mit den „supra-konstitutionellen Prinzipien", benannt nach dem mittlerweile ausgeschiedenen Vizepremier), komplett (eine 100-köpfige Kommission soll sie schreiben, die das Parlament bildet - dies versprach der Scaf den Muslimbrüdern dafür, dass sie vor Beginn der Wahlen die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz boykottierten) oder nur teilweise (die verfassungsgebende Versammlung soll durch Kräfte erweitert werden, die nicht im Parlament vertreten sind - dazu gibt es unterschiedliche Ideen). Aber eines ist sicher: Wenn die Militärs im Spiel bleiben wollen, müssen sie sich irgendwie mit den islamischen Kräften arrangieren.

Die Muslimbrüder und die Salafisten halten sich erst einmal bedeckt, was ihre Vorstellungen zur Verfassung betrifft - dass der Artikel 2, der die Scharia als die Rechtsquelle festschreibt, mit ihnen nicht angetastet werden würde, ist klar. Aber viel mehr ist aus beiden nicht herauszuholen, auch nicht zur Frage, ob sie miteinander ein Bündnis, das die Agenda diktieren könnte, eingehen würden. Die Säkularen setzen darauf, dass sich die Muslimbrüder ähnlich wie Ennahda in Tunesien verhalten werden und mit den nicht islamischen Kräften auf möglichst breiter Basis eine Koalition bilden wird.

Ahram Online brachte am Montag ein Interview mit Emad El-Din Abdel Ghafour, dem Chef der Nur-Partei, und seine Aussagen lesen sich im Großen und Ganzen wie die eines gemäßigten Muslimbruders. Er bestreitet mit Entschiedenheit, den Ägyptern eine strengere islamische Ordnung aufzwingen zu wollen. Ganz haut das aber nicht hin, denn er sagt: „Ich möchte wiederholen: Wir würden nie jemanden dazu zwingen, etwas zu tun. Wir wollen nur die islamischen Traditionen schützen, nicht mehr. Ausländer können in Ägypten selbstverständlich weiter essen und trinken, was sie wollen. Die Regeln des Islam gelten für sie nicht." Daraus könnte man aber sehr wohl schließen, dass die „Regeln des Islam" in Hinkunft für alle Ägypter gelten.

Und nicht alle Nur-Parteimitglieder halten sich an die Linie ihres Chefs. Einen - nachvollziehbaren - Aufschrei gab es jüngst zur Aussage, dass die Werke des ägyptischen Literaturnobelpreisträgers Naguib Mahfuz „Promiskuität, Prostitution und Atheismus" fördern würden. Die gute Nachricht dazu ist, dass Abdel Moneim al-Shahat, der das von sich gab, ein prominenter Salafist in Alexandria, bei den Wahlen gegen einen unabhängigen Kandidaten, der von den Muslimbrüdern gestützt wurde, verloren hat. Die schlechte Nachricht ist, dass seine Unterstützer dies als Zeichen sehen, dass nun der Gottesstaat in Ägypten umso früher kommt - denn Demokratie sei sowieso nur Unglaube, und so sei es auch besser, dass Shahat verloren habe. (Gudrun Harrer, derStandard.at, 13.12.2011)